Vorhang auf für Paradise Sorouri – eine der ersten fe*male MCs in Afghanistans. Gemeinsam mit ihrem Partner Diverse formiert sie das HipHop-Projekt 143Band und thematisiert Geschlechterungleichheit und die patriarchale Gesellschaft in Afghanistan. Doch dergleichen Engagement für die Rechte von Frauen und Mädchen hat seinen Preis. So muss Paradise mehrmals vor gewalttätigen Übergriffen fliehen. Dennoch kommt Schweigen für die MC nicht in Frage.
Be a voice for the voiceless of my country!“
Paradise Sorouri im Interview mit TheBridgeRadio
2008 beginnen Paradise und Diverse, gemeinsam Musik zu machen. Beide kommen aus afghanischen Familien, die in Folge des nicht enden-wollenden Krieges in den Iran auswandern. Nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 zieht Paradise mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan und lebt in Herat, einer der größten Städte des Landes. Dort lernt sie Diverse kennen. Dieser teilt ihre Begeisterung für internationale urbane Künstler:innen wie Jay Z, Eminem oder Beyoncé. Behelfsmäßig richten die Beiden ein kleines Studio ein und beginnen, Tracks aufzunehmen. Auf andere Studios auszuweichen stellt keine Option dar. Der Weg dorthin birgt permanente Gefahren – besonders als unverheiratetes Paar fällt das Duo auf.
Triggerwarnung für den restlichen Text: Die nachfolgenden Absätze behandeln misogyne Gewalt, Unterdrückung und Suizid. Solltest du dich mit diesen Themen gerade unwohl fühlen, lies die Stellen am besten zu einem anderen Zeitpunkt oder überspringe den restlichen Teil des Portraits komplett.
Die hiesige restriktive Auslegung der Scharia verbietet afghanischen Frauen vielerorts das Singen und somit auch das Rappen. Paradise erhält zunehmend Drohungen. Eines Tages verprügeln zehn mit Holzstangen bewaffnete Männer die junge Rapperin und ihren Bruder. Daraufhin fliehen Paradise und Diverse nach Tadschikistan. Die gemachten Erfahrungen verarbeiten sie in ihrer Musik. Es entstehen kämpferische Tracks über Gleichberechtigung und gegen Unterdrückung und misogyne Gewalt.
My song this time is about the story of a woman. An Afghan woman in her homeland. I want to be, the voice of a woman. No less no more.“
Lyrics „Faryade Zan“ (übersetzt aus dem Persischen)
Im tadschikischen Exil veröffentlicht die 143Band ihre erste Single „Faryade Zan“. Das Release stellt nicht nur für Paradise und Diverse eine Premiere da – es gilt darüber hinaus als erster fe*male Rap-Song in Afghanistan. Der Titel bedeutet übersetzt „Schrei der Frau“ und erzählt die Geschichte einer afghanischen Frau, die mit allgegenwärtiger patriarchaler Gewalt konfrontiert ist und gleichzeitig dazu aufruft, kämpferisch dagegen zu halten. „Faryade Zan“ erlangt Aufmerksamkeit – auch über Afghanistan hinaus.
2012 erlebt die Künstlerin eine furchtbare Zäsur. Ihre neun- und zwölfjährigen Cousinen begehen aus Angst vor einer Zwangsehe mit über 60-jährigen Männern, Suizid durch Selbstentzündung. Verzweifelt kehrt Paradise zurück nach Afghanistan. Dort nimmt sie zum Gedenken an ihre Cousinen den Song „Nalestan“ auf. Der harte und eindrückliche Text erzählt aus der Ich-Perspektive verhandelt Themen wie Vergewaltigung, häusliche Gewalt und Selbstmord – eigentlich Tabuthemen in Afghanistan. Afghanische wie internationale Medien berichten über den Track. 2014 erhält Paradise Sorouri eine Auszeichnung bei den afghanischen Rumi World Awards.
Die erlangte Aufmerksamkeit birgt jedoch auch Schattenseiten. Paradise bekommt zunehmend Morddrohungen. Sie wechselt die Wohnung, geht zu ihrer Schwester und hält sich versteckt, bis sie nach Kabul zieht. Dort tritt sie wieder in die Öffentlichkeit, um weiterhin feministischen Widerstand zu leisten.
2015 inspirieren 143Band den afghanischen Exil-Regisseur Omid Marzban zu dem dokumentarischen Kurzfilm „Rebel Beats“ und spielen selbst die Hauptrollen. „Rebel Beats“ will ein umfassenderes Bild von Afghanistans Gesellschaft zeichnen. So zeigt der Film die männliche Dominanz und gewaltvolle Unterdrückung von Frauen und LGBTQI*, gibt aber gleichzeitig den vielen Menschen die an Gleichberechtigung glauben und das religiöse Patriarchat ablehnen eine Stimme. Kurz danach fliehen Paradise und Diverse nach Berlin.
2017 stellt die 143Band eine EP mit dem hoffnungsvollen Titel „Bright Future“ zusammen und tritt auf dem dänischen Roskilde-Festival auf. „Bright Future“ beinhaltet moderne Lamenti, die über das Klagen hinausgehen. Die 143Band beschreibt gewaltvolle Zustände und ruft dazu auf, diese zu verändern. Dabei verbinden sie afghanische Pop-Folklore mit Rap-Beats. Dass Paradise Sorouri auch singen kann, stellt sie in melodisch-traurigen Refrains unter Beweis.
Die Bezeichnung erste Rapperin Afghanistan zu sein, beanspruchen neben Paradise Sorouri mehrere MCs. Doch letzlich geht es ihr um etwas Anderes, wie sie 2016 im Interview mit The Guardian markiert. Im Mittelpunkt soll die Ermutigung von Frauen und Mädchen stehen, ihre eigenen Versuche mit Rap zu starten.
In ihrem bisherigen Werk prangert Paradise Sorouri die oft gewaltvolle Unterdrückung von Frauen an, die auch nach dem Sturz der Taliban an der Tagesordnung waren. Seit 2021 sind die Taliban nun wieder an der Macht, womit eine katastrophale Verschlechterung der Lebensrealität von Frauen einhergeht. Frauen dürfen größtenteils nicht mehr zur Arbeit, Mädchen nicht in die Schule. An öffentliches Singen und Rappen ist erst gar nicht zu denken. Doch regelmäßig demonstrieren Frauen gegen die Taliban. Nach wie vor gibt es mutige Widerstände – so gefährlich sie auch sein mögen.
They mistreated you and you continued to live! So why are you still sitting in this nightmare! Get up and take what is yours from the world. Don’t remain silent.“
Lyrics „Faryade Zan“ (übersetzt aus dem Persischen)