Die mittel- und südamerikanische Mythologie kennt den Glauben an Nahuals: Schutzgeister, die die Gestalt von Pflanzen oder Tieren annehmen können und eng mit dem ihnen zugehörigen Menschen verbunden sind. Wird der Mensch verletzt oder stirbt, trifft das gleiche Schicksal auch seinen Nahual, so heißt es. Über die Jahrhunderte der Überlieferung wandelten sich die Geschichten, und mit ihnen die Bedeutung des Wortes. Hinter einem Nahual steckt ein Mensch, der die Fähigkeit hat, sich in einen Jaguar zu verwandeln – so steht es in einer der zahlreichen Sagen. Zuweilen werden auch allgemein ihre Gestalt wandelnde Hexen als Nahualli bezeichnet.
Die mexikanische Künstlerin Lady Nahualli hat sich also einen ausgesprochen passenden Alias ausgesucht: Sie verbirgt ihre Identität hinter einem wabernden, vielgesichtigen Schutzengel-Mythos, der wie eine märchenhafte Entsprechung zu ihrem mindestens genauso schwer greifbaren Sound erscheint.
Was ist das überhaupt, das diese Frau da fabriziert? Was in einem Moment wie eine (ohnehin schon krude) Fusion aus Trap und R&B wirkt, fährt im nächsten ordentlich Goth-, Alternative- oder Synthiepop-Vibe auf, tut dann kurz so, als sei es HipHop, bloß, um im übernächsten Augenblick in elektronische Gefilde abzuschwirren. „Witch Trap“, nennt Lady Nahualli das, das einigermaßen hilflose Etikett „weirder Shit“ träfe es aber ähnlich gut.
Genregrenzen sind zum Glück ohnehin für Feiglinge, und zu denen zählt Lady Nahualli definitiv nicht: „Try to step over me, fool yourself“, warnt sie eventuell unvorsichtige Gegenüber in „RAM“, „I’m the ram, not the pawn, I defy the odds.“ Stets alle Fäden in der Hand zu behalten, ist ihr in ihrer Kunst ein besonderes Anliegen: Lady Nahualli ist ihr eigener creative director. Als Musikerin, Sängerin, Songwriterin erschafft sie ihre Musik und kümmert sich als Tänzerin, Performerin, Regisseurin auch gleich um die passende visuelle Umsetzung.
Ihr Talent offenbart sich früh: Schon als Kind erklimmt sie die Bühne, sie singt und tanzt bei diversen Wohltätigkeitsveranstaltungen und Festivals. Spätestens 2009 steht für sie fest, dass aus ihrer Leidenschaft ein Beruf werden soll: Sie studiert orientalischen Tanz, absolviert in den Folgejahren zahlreiche Fernsehauftritte und nimmt an Tanzwettbewerben teil.
Zu Musik anderer zu tanzen genügt ihr aber nicht. Lady Nahualli (die zunächst noch unter dem Namen Nahualli Ana del Cielo auftritt) nimmt auch diese Sache in die eigenen Hände. Sie schreibt ihre eigenen Lieder, die sie selbst singt, rappt, haucht – oder was immer der Song eben gerade erfordert.
So eigenbrötlerisch, wie sich das jetzt liest, ist Lady Nahualli dann aber doch nicht unterwegs: 2014 schließt sie sich mit dem deutschen DJ und Produzenten Jan Conrad und einem Producer aus Miami namens ‚Missing‘ zu einem wahrhaft weltumspannenden Projekt zusammen, dessen Output wohl am ehesten in die Trip Hop-Schublade passt. Hier, in den Reihen von Flames In Our Storm, kurz FIOS, experimentiert Lady Nahualli mehr und mehr mit HipHop und Rap und kommt zunehmend auf den Geschmack.
Anfang 2020 dann die Meldung: „Former band member at FIOS is now as a solo artist“, verbunden mit einem Versprechen – „same quality, same passion“ – und einer Aufforderung, der wir sehr gerne Folge leisten: „Welcome Lady Nahualli!“ Dass sie ein warmes Willkommen verdient hat, hat sie spätestens mit ihrer EP „Prophetic Landscaped Verses Of A Misfit“ gezeigt. Die birgt zwar nur vier Tracks. Zugleich steckt darin aber das Potenzial, in der internationalen Rap-Szene ähnlich viel Angst und Verwirrung zu stiften wie seinerzeit die mysteriösen Nahualli bei den spanischen Conquistadores.