Now Reading
Jahresrückblick Part 1

Jahresrückblick Part 1

2020 neigt sich dem Ende entgegen. Es war ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Jahr, das in der internationalen Musikszene tiefe Spuren hinterlassen wird. Trotz inzwischen amtlichem Festival- und Konzertentzug, vertieften Sorgenfalten und viel Ungewissheit gibt es auch Positives zu berichten: Zum einen ist in diesem Jahr 365 Female MCs als eigenständiges Online-Magazin an den Start gegangen. Ein wundervolles Team aus Autor*innen, Illustratorinnen, Lektor*innen, Übersetzer*innen und weiteren Helfer*innen hat dieses Herzensprojekt auf ein völlig neues Level gehoben und arbeitet unermüdlich (und leider auch unentgeldlich) daran, mehr Sichtbarkeit für fe:male Artists zu schaffen und HipHop als diverse internationale Bewegung zu euch nach Hause zu bringen. Beim Scrollen durch die Portraits der letzten Monate bekomme ich eine echte Gänsehaut – so viele phantastische Künstlerinnen haben hier ihren Platz gefunden. Und wir sind noch lange nicht fertig.

2020 ist und war aber auch ein Jahr mit besonders starken und vielseitigen HipHop-Releases. Die Besten möchten wir euch im Rahmen unseres Jahresrückblicks zum (nochmaligen) Hören ans Herz legen. Die Auswahl fiel uns sichtlich schwer – nur eine EP, ein Album oder ein Mixtape durfte jedes Team-Mitglied als „Release des Jahres“ ernennen. Das Ergebnis stellen wir euch nun als Kurz-Reviews in vier Teilen vor – jeweils zu den Adventssonntagen. Los geht’s mit Teil 1!

Princess Nokia – Everything sucks

„Yeah, yeah, yeah, bitch, I’m gross”, schmettert es durch die Kopfhörer. Es ist ein kühler Herbstnachmittag und das Laternenlicht bricht die verwelkten Herbstblätter. Zu dieser Atmosphäre passen auch Princess Nokias Lyrics und der düster-kraftvolle Sound in „Gross“. Ich höre diesen Song und das dazugehörige Album „Everything sucks“ seit Erscheinen mehrmals in Dauerschleife. Princess Nokia erzählt von ihrem* Schaffensweg, präsentiert aggressiv-direkt ihre* Selbstbehauptung und verarbeitet Traumata. Princess Nokia bewegt sich, anders als das Album mit gleichzeitigem Erscheinen des zweiten Longplayers „Everything is beautiful“ vermuten lässt, nicht in gegensätzlichen Gefühlswelten. Eher durchmischen sich alle Emotionen und Erlebnisse. Dafür sprechen auch die Cover der Alben. Das Cover von „Everything sucks“ zeigt die Künstlerin unter anderem mit einem Teddybär. Dier könnte zumindest als Trostspender verstanden werden. Ihre* Stimme tritt auf dem Album rappend, singend und verrückt- flüsternd auf. Sie ist damit ein auf Augenhöhe basierender Antagonist zum Soundbild. Aufgenommen wurde das Album innerhalb einer Woche mit dem Produzenten Tony Seltzer. Im Gespräch mit der demokratischen US-amerikanischen Politikerin Alexandra Ocasio Cortez spricht Princess Nokia davon, wie sehr das „Nurturing“ in ihrer* Community verbreitet ist. Also die gegenseitige Fürsorge und das Aufeinander achten. Auch „Everything sucks“ betitelt Princess Nokia auf ihrer* Facebookseite als:

 „a love letter to my fans in every single way. A place where art, self exploration and safety could provide healing and fun.” 

Und ja, es macht Spaß dieses Album zu hören. Die Ironie, die Verletzlichkeit und die Power trösten und heitern mich auf. Es passt zu jeder Tages- und Jahreszeit. Es gibt Ohrwürmer, die zeitlos bleiben werden. Ich werde sie auch noch an einem Sommer in 20 Jahren hören und an den Herbst 2020 zurückdenken. (moody_witch_Jana)

Haszcara – Hautnah

Nach einer kleinen Release-Pause im letzten Jahr wandte sich Haszcara erneut dem Format der EP zu. Mann, hat mich das gefreut. Denn so wie Essen seine grausame Stärke erst in Riegelform entfaltet (Ausruf an Homer Simpson), so wirkt Musik erst in konzentrierter Form so richtig kraftvoll. Wie ein Ingwershot, nur mit Rap, Fleiß, Talent, Swag und keinem einzigen Prozent Zufall. Hier wirkt alles durchdacht und durchfühlt, aber nicht konzipiert. Den Teamspirit der Redaktion hat sie mit „Schon lange“ problemlos auf ihrer Haben-Seite, handelt es sich dabei doch um den inoffiziellen Soundtrack zu diesem ganzen Projekt – Shoutout an die Gründerin inklusive.

Der Titelsong und „Niemand, der so redet“ behandelt ihr Leben auf Achse – ein Mal direkt an ihr Significant Other gerichtet, das zu Hause bleibt, während „deine Kleine“ auf Bühnen das MC-Leben lebt. Mein persönliches Highlight ist aber der Opener „Riker“. Nicht nur eine kleine Anspielung auf Star Trek, sondern eine reife und selbstbewusste (im wahrsten Wortsinne) Sicht auf Liebe und Beziehungen.

„Ja, ich weiß, es tut weh, zu erinnern, wer dein Herz brach.
Doch ich bin ein anderer Mensch und hoffe, du merkst das.
Ja, ich weiß, es tut weh, sich zu öffnen,
doch nur so ist auch sicher, dass wir wenigstens echt sind.“

Und so saß ich im Sommer nachts auf einer Parkbank, mit offenem Mund, beschriebenem Gefühl und berührter Seele. Bravo! (Krentzman)

Little Simz – Drop 6

Spätestens mit “GREY Area” hat Little Simz 2019 viele von sich überzeugt. Ich sah sie letztes Jahr sogar zweimal live und wurde nicht enttäuscht. Dementsprechend groß war meine Freude als die “Drop 6”-EP angekündigt wurde. Das Release ist nicht das, was ich erwartet habe, doch ich habe es dieses Jahr sehr oft gehört. Denn in diesen zwölf Minuten ist Raum für Selbstbewusstsein und Selbstzweifel – ohne das auch nur eins davon aufgesetzt wirkt. Die Arbeit zur EP hat Little Simz schon vor dem Lockdown begonnen, wurde dann durch eben diesen lethargisch, um sich später dann wieder aufzuraffen. Deshalb besteht die EP aus zwei verschiedenen Stimmungen. Es ist ein rohes Durcheinander, dem aber jeder folgen kann, da wir alle in einer ähnlichen Situation und in der gleichen Pandemie leben. Es ist eine Momentaufnahme, die das Jahr 2020 perfekt einfängt. (Vanessa Seifert)

Nadia Nakai – Nadia Naked II

Kenner:innen wie auch regelmäßige Leser:innen unseres Blogs werden sich jetzt wahrscheinlich denken: „Wait a second, kam Nadia Nakais unfassbar krasses Debütalbum »Nadia Naked« nicht bereits im Juni 2019 heraus? Was macht diese Platte also im Jahresrückblick 2020?“.

Nun, mal ganz abgesehen davon, dass die Fragen sich von selbst erklären, denn unfassbar krasse Alben gehören nun mal in Jahresrückblicke, bleibt nur noch zu beantworten, warum die Platte es dann nicht schon letztes Jahr in unsere „Best of Releases 2019“-Liste geschafft hat. Um ehrlich zu sein, ich kann es mir auch nicht erklären, aber sei es drum: Das Glück war bzw. ist nämlich 2020 – zumindest in musikalischer Hinsicht – ganz auf unserer Seite gewesen. Und so droppte die wundervolle Bragga „Queen of ragga“ Nadia Nakai am 4. September 2020 einfach mal die Deluxe Version ihrer Debütplatte mit fünf neuen Songs – so here we are proudly presenting „Nadia Naked II“!

See Also

Fakt ist nämlich, dass die Hörerfahrung dieser Platte zweifelsohne als wahre Deluxe-Erfahrung beschrieben werden kann und alleine deswegen niemandem entgehen sollte. Von der Produktion, dem Arrangement der einzelnen Songs, den Feature-Auftritten von u.a. Gästen wie Cassper Nyovest, Khuli Chana, Kwesta, Lady Zamar, Tshego oder Stefflon Don bis hin zu Nadias krassem Style, Flow und lyrischer Tiefe: Die Rapperin bezeichnet sich zurecht, und ich betone es gerne nochmal, zurecht als „boss boss boss boss boss boss boss boss/ bitch bitch bitch bitch bitch/ I’m a big body bitch with a rude lip (bitch)“.

Auch wenn die Platte bereits ohne die fünf neu aufgenommenen Songs eine klare musikalische Ansage an die südafrikanische Rap-Szene darstellt, zementieren neue Tracks wie „Practice“ (feat. VIC MENSA), „Rider“, „Addicted“ oder Head off“ was für ein technisches und lyrisches Talent in Nadia Nakai steckt. Das Album schreit vom ersten bis zum letzten Song einfach nach „(Black) fe:male Empowerment“. Kein Wunder, dass ihre Fans Nadia Nakai gerade deswegen so lieben und als Vorbild feiern. Die Rapperin präsentiert sich auf „Nadia Naked (II)“ – dem Titel entsprechend – gleichermaßen gefühlvoll und verletzlich (siehe Songs wie „Amai“ oder „Kreatures“) wie auch zielstrebig und sich ihrer selbst sowie ihrem Können zu 100% bewusst („Imma Boss“ oder „Rap Bitches“).

Wen das allerdings immer noch nicht davon überzeugt hat, dass Nadia Nakai „the baddest on the block“ ist, wie sie direkt im „Intro“ der Platte zu verstehen gibt, dem oder der sei geraten, sich einfach mal die dazugehörige Dokumentation zum Making-of von „Nadia Naked“ anzuschauen. Ein musikalisch-dokumentarisches Portrait über eine Künstlerin, auf die berechtigterweise derzeit alle Augen in ihrer Heimat gerichtet sind und die wir mindestens genauso auf dem Schirm behalten sollten! – Falls nicht… in ca. 12 Monaten folgt ja auch schon der Jahresrückblick für 2021. Wenn uns bis dahin Nadia Nakai nicht selbst mit neuen Releases beglückt, wird mir schon irgendeine Lösung einfallen, um erneut ein Shoutout auf diese Rapperin und ihre großartige Musik “reinzuschummeln”! Wartet es nur ab! (Penelope Braune)

Reeza – Alien

Den Sound des Albums kann man dem progressiven Emo-/Punk-Rap zuordnen auf Grundlage von scheppernden 808-Bässen. Die gefühlvoll angesprochenen Probleme in den Parts viben zur gegensätzlichen Untermalung der Hi-Hat – und widerlegen damit Szene-interne Vorstellung von zeitgemäßem Trap-Sound als harte, einsame Männer-Domäne. Das Artwork von Mirek, sowohl auf Covern als auch in den Videos der Single-Auskopplungen, unterstreichen den stellenweise weltfremden Sound des Albums „Alien“. Die Erscheinung und modische Interpretation rundet das nachdenkliche Gesamtbild ab. Mit dem Album „Alien“ greift Reeza aktuelle soundtechnische Trends auf, interpretiert sie aber neu und passt sie an ein überwiegend weibliches Publikum an. (Mäd)

Teil 2 des 365 Female MCs Jahresrückblicks erscheint am 6. Dezember 2020.

View Comments (4)

Leave a Reply

Your email address will not be published.

Scroll To Top