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СТАСІК

СТАСІК

Kurz vor unserer Redaktionssitzung im Februar 2022 beginnt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Mitgenommen von Eilmeldungen auf dem Handy-Display beschäftige ich mich das erste Mal in meinem Leben mit ukrainischen Rapperinnen. Für eine schlägt mein Herz dabei besonders hoch: СТАСІК (STASIK) heißt die experimentelle Musikerin mit den beeindruckenden Videos, die in meinen Augen jeden Kurzfilm-Preis der Welt verdient hätte. Erst im Laufe der Recherche wird mir klar, dass СТАСІК nicht nur Theater-Schauspielerin und Musikerin ist. Ihren Hass auf Russland und die Abneigung gegenüber jeglicher Kriege verpackt sie nicht nur als Außenstehende in Songs – sie selbst ist Soldatin, die mit ihrer Kunst von Einsätzen im Donbass und nun auch dem Widerstand in Kyjiw berichtet.

Triggerwarnung für den restlichen Text:
In diesem Text werden keine konkreten Kriegsereignisse thematisiert. Das Thema beherrscht aber die gesamte musikalische Laufbahn der Künstlerin. Solltest du dich in diesem Moment nicht in der Lage fühlen, mit dem Thema „Krieg“ konfrontiert zu werden, lies dieses Portrait gerne zu einem anderen Zeitpunkt, an dem du es dir eher zutraust.


Anastasia Shevchenko wird am 14. Juli 1993 in Kyjiw als Tochter einer Psychologin und eines Unternehmers geboren. Die Musik und das Theater spielen schon in ihrer Kindheit und Jugend eine bedeutende Rolle, sodass sie 2008 beginnt, sich in einem Zentrum für zeitgenössische Kunst zu engagieren. Mit dem Wunsch nach künstlerischer Selbstverwirklichung und Freiheit beschließt sie im Alter von 17 Jahren, nach dem Abschluss der Schule, um die Welt zu reisen und nebenbei als Barkeeperin zu arbeiten. 2013 werden diese Pläne gestört, als es zum Euromaidan kommt. Proteste in der Ukraine, die Annexion der Krim, ein Regierungswechsel – plötzlich geht alles ganz schnell. Als Reaktion auf diese Geschehnisse geht Anastasia selbst nicht nur zum Militär, wo sie besonders im psychologischen und medizinischen Bereich Hilfe leistet, sondern wird auch Teil des Projekts Veteran Hub. Das durch Spenden finanzierte Projekt bietet kostenlose Hilfe für Veteran:innen, die sich nach Zufluchtsorten, Austausch, Konzerten und Diskussionen sehnen. Es bietet Anastasia den perfekten Ort, um soziales Engagement, politischen Widerstand und Musik(-theater) kombinieren zu können.

Parallel zu dieser gemeinnützigen Aktivität gelingt es ihr aber auch, eine Karriere als Solo-Künstlerin zu starten. Nachdem sie 2017 beginnt, als Fernsehmoderatorin zu arbeiten, veröffentlicht sie unter dem Namen СТАСІК ihre eigene Musik. Neben klassischen Rap-Songs, in denen sie selbstbewusst nur so vor sich hin flowt, finden sich in ihrer Diskografie aber auch besonders experimentelle Stücke, die ihre Leidenschaft für HipHop nur noch grob erahnen lassen. Ohne explizit religiöse Züge anzunehmen, weisen viele ihrer Lieder einen Folklore-Charakter auf. Was ihre Songs jedoch auf den ersten Blick vereint, sind die Videos: Hochqualitativ produziert und ästhetisch bis ins letzte Detail durchdacht, ähneln die Musikvideos von СТАСІК viel eher Kurzfilmen als Musikvideos, die ihre Theater- und Bühnenerfahrung deutlich werden lassen.

Nicht nur optisch, sondern auch lyrisch können die Singles von СТАСІК überzeugen. In ihrer Musik rechnet sie mit ihren Feinden ab – und der Haupt-Feind, das ist Russland. „Lullaby for the enemy“ lautet der Titel eines Wiegenliedes für das russische Militär, dem sich CTACIК selbst vor einigen Jahren als Soldatin im Donbass stellt. Nicht nur dieser eine Song dient als Ventil für die Erfahrungen, die die junge Ukrainerin in Bezug auf den Krieg in den vergangenen Jahren sammeln muss. All ihre Songs handeln von erlebtem Unglück und dem Wunsch, die Welt mit geeinten Kräften zu einem besseren Ort zu machen. Der erlebte und thematisierte Schmerz findet dabei musikalisch besonderen Ausdruck durch ihre kräftige Gesangsstimme: Einschüchternd, stellenweise fast schon schreiend, präsentiert CTACIК sich immer wieder in verwüsteten, dunklen Landschaften, während sie auf gewaltigen Instrumentals eindringlich in die Kamera spricht.

Ой, жаль мені, воріженьку,
Що став на цю доріженьку,
Йдеш на смерть, як навіжений…
Спи!.
Спи!.
Спи!.
Спи!.
Злість покинь, покинь утому,
Більш нема потреби в тому,
Уві сні навік потонеш!.“

(„I pity you, my enemy
Pity that you chose to walk down this road
You walk toward your death like a crazy
Sleep!
Sleep!
Sleep!
Leave your anger and leave your fatigue
There is no more need
You will drown forever in your sleep“)

– Lyrics „Колискова для ворога“

Am 24. Februar erreichen die Konflikte mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ein neues, schreckliches Ausmaß. Binnen weniger Tage fliehen tausende Menschen vor den russischen Truppen, Mitte März haben schon über drei Millionen Ukrainer:innen ihre Heimat verlassen. Nur drei Tage nach dem Invasionsbeginn veröffentlicht СТАСІК spontan einen neuen Song. „Бий“ erscheint ohne Musikvideo und erweckt damit zusätzlich den Eindruck, als handle es sich hierbei um eine sehr spontane Veröffentlichung, legt die Ukrainerin sonst doch so viel Wert auf die visuelle Ergänzung ihrer Lieder. Ein Blick auf ihren Instagram-Account bestätigt diese Vermutung: „Ich hatte nicht vor, diesen Song zu veröffentlichen, aber es gibt heute eine Ausgangssperre in Kyjiw, also werde ich euch ein wenig aufmuntern“1. Das Thumbnail zeigt die junge Frau in kämpferischer Haltung mit Bengalo in der Hand, der Song hingegen klingt überraschend tänzerisch. Aufgrund fehlender Kenntnisse der ukrainischen Sprache können wir euch an dieser Stelle nicht weiter über den Inhalt dieses Songs informieren.

See Also
Dobra

Ob es in der nächsten Zeit neue Musik von СТАСІК zu hören geben wird, ist angesichts der aktuellen politischen Umstände natürlich erst einmal ungewiss – auf Social Media spricht sie davon, Kyjiw nicht verlassen zu wollen. Wir wünschen СТАСІК und allen anderen Menschen, die von militärischen Bedrohungen und Krieg betroffen sind, Kraft und Gerechtigkeit. Auf dass sie schnellstmöglich wieder in Sicherheit sind und sich wieder der Musik, die sie lieben, widmen können.

1 Die ukrainischen Texte wurden mithilfe verschiedener Online-Übersetzungstools ins Deutsche übersetzt. Normalerweise bemühen wir uns bei 365 Fe*male MCs darum, korrekte Übersetzungen beispielsweise durch die Rücksprache mit Muttersprachler:innen zu garantieren. Aufgrund der aktuellen Lage in der Ukraine habe ich mich als Autorin bewusst dagegen entschieden, ukrainisch-sprechende Menschen für dieses Portrait zur Hilfe zu bitten, da ihre sprachlichen Fähigkeiten aktuell an anderen Stellen dringender benötigt werden, als für die Anfertigung eines musikjournalistischen Textes. Ich bitte um Nachsicht, sollte es zu Übersetzungsfehlern gekommen sein.

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