Manchmal sind wir einfach zu langsam. Manche Geschichten sind bereits zuende, noch ehe wir angefangen haben, sie zu erzählen. Die von Annelise gehört dazu. Im Sommer 2021 verabschiedet sich die dänische Rapperin per Facebook-Posting von ihren Fans:
Ich habe keine Motivation mehr und nicht mehr den Wunsch, Musik zu machen, auf der Bühne oder im Rampenlicht zu stehen. Es war zwar ein Traum, den ich seit meiner Kindheit verfolgt habe […] doch jetzt bin ich zu dem Entschluss gekommen, ihn auf unbestimmte Zeit auf Eis zu legen.“
Original: „Jeg finder ikke samme motivation eller lyst til at lave musik, stå på scener eller at være i rampelyset […] men nu er jeg kommet til den beslutning, at jeg vil ligge den del på hylden på ubestemt tid.“
Acht Jahre zuvor wäre Annelise selbst wahrscheinlich die Letzte gewesen, die für möglich gehalten hätte, eines Tages die Lust zu verlieren: Im Interview mit der Innovative Artist Academy erinnert sie sich noch ganz genau an das erste Mal, als die mit dem Mic in der Hand auf einer Bühne stand:
Das muss 2014 gewesen sein, ich war Back-Up-MC für Mund de Carlo bei der Releaseparty seines Albums ‚Frit Fald‘. Die Halle war ausverkauft. Es war das Wildeste, das ich je erlebt habe. Ich glaube, ich habe mich noch nie zuvor so cool, so zu Hause und so wohl gefühlt. Da wusste ich, dass ich genau am richtigen Ort angekommen bin.“
Original: „Første gang jeg rappede på en scene, må ha’ været dengang, jeg startede som back-up rapper for Mund de Carlo til release på hans album: “Frit fald” i 2014 på et udsolgt Stengade. Det var det vildeste, jeg nogensinde havde prøvet. Jeg tror aldrig, jeg før, havde følt mig SÅ cool, hjemme og tilpas på en scene. Der vidste jeg, at jeg var landet det helt rette sted.“
An dem Abend unterstützt Annelise ihren Kollegen Mund de Carlo, der – wie sie – Mitglied des Kopenhagener Rap-Kollektivs Struglaz ist. Die Crew aus Nørrebro, seit 1998 aktiv, gilt als eine echte Institution im dänischen HipHop. Bis Annelise ihre erste eigene Show bestreitet, ziehen mehrere Jahre ins Land, in denen sie an ihren Skills und an ihrer Bühnenpräsenz feilt. An den ersten Abend, an dem sie auf der Bühne nicht mehr nur die zweite Geige spielt, erinnert sie sich ebenfalls noch ganz genau. Kein Wunder, stieg es doch an einem für sie ganz besonderen Termin:
Meine erste Show als Solokünstlerin bestritt ich am 14. Januar 2017 in Rust, an meinem 26. Geburtstag, zusammen mit Milad Genius, der an diesem Tag auch Geburtstag hatte. Der Laden war absolut vollgestopft mit Leuten und wir hatten die verdammt wildeste Nacht, die ich NIE vergessen werde. Ich glaube nicht, dass wir uns einen besseren Einstand hätten wünschen können.“
Original: „Men min første debutkoncert som solist var på min 26. års fødselsdag D. 14. januar 2017 på Rust sammen med Milad Genius, som også har fødselsdag den dag. Det var fuldstændigt pakket med mennesker og vi havde den fucking vildeste aften, som jeg ALDRIG vil glemme. Tror ikke vi kunne ha’ ønsket os en bedre debutkoncert end den!„
Producer Milad Genius gehört, wie Annelise und Mund de Carlo zum Struglaz-Kollektiv. Mit beiden verbindet sie über Jahre hinweg eine Freundschaft, der ganz nebenbei brachial unterhaltsamer Rap entspringt. „Frist Fiks“ zum Beispiel, ein Track, an den sich Annelise noch Jahre später gerne zurückerinnert:
Mund de Carlo schrieb dieses Lied vor fünf Jahren, als ich sein Backup-Rapper war. Bannerbeats hat es produziert. Eigentlich war es für die neue Mund-Liveshow vorgesehen gewesen, doch stattdessen wurde es meine erste Single.“
Annelise bei Facebook, Original: „Mund de Carlo skrev for 5 år siden denne sang, da jeg var hans backup-rapper. Og det er produceret af Bannerbeats. Meningen var, at det skulle bruges til Mundens nye liveshow, men det endte i stedet med at blive min første single.“
Weitere sollen folgen. Im Gegensatz zu manch anderen Künstler:innen, die die Unabhängigkeit bevorzugen, arbeitet Annelise gerne im Team. Auch, wenn es anders wirken mag: Es sei ihr nie besonders leicht gefallen, ihre Gedanken in Reime und Flows zu übersetzen, gesteht sie: „Ich bin sehr glücklich, dass ich Carlos aka Mund de Carlo habe. Er ist ein fantastischer Songwriter, und weil wir so eng befreundet sind, verstehen wir uns auch auf menschlicher Ebene.“
Die Texte, erzählt sie, entstehen dabei ganz organisch, manchmal aus einem Vibe, einer Jam-Session heraus, manchmal als Resultat stundenlanger Gespräche über Erlebnisse und Gefühle. „Er bringt das dann in einer Art und Weise auf den Punkt, wie es sonst niemand kann. Das Ergebnis lasse ich auf mich wirken, spiele mit Ausdruck und Vortrag, bis ich mich irgendwann bereit fühle, den Track aufzunehmen und zu veröffentlichen.“
Auf der musikalischen Seite kommt Milad Genius ins Spiel: „Er ist bei unseren Studiosessions der beste Führer und Mentor. Er ist ein sehr experimentierfreudiger Künstler, der mich immer wieder dazu bringt ein bis zehn Dinge auszuprobieren, die mir eigentlich gar nicht cool vorkommen. Er ist ein wirklich origineller, einzigartiger Mensch. Wir drei sind, was die Musik angeht, ein richtig gutes Team.“
Trotzdem gibt es nur eine Annelise, wie der Titel einer ihrer Tracks klarstellt, wie sie ist keine andere Lise, „Ingen Anden Lise“:
„Ingen Anden“ heißt folgerichtig auch die zugehörige EP, die 2018 erscheint. Skills, Flow, Attitüde … Annelise wirkt wie der Natural Born Rapstar. Es geht viel um Solidarität und Gemeinschaft – die Liebe zur Musik, die ihre Songs wie ein roter Faden durchzieht, dringt überall durch. Zahlreiche ‚orientalisch‘ gefärbte Samples verraten ein Faible für arabische Sounds. „Wichtig ist mir, zu spüren, dass die Musik etwas in mir berührt.“
Im Gegensatz zu vielen anderen hält Annelise ihr Geschlecht übrigens ganz und gar nicht für ein Handicap: „Nein, ich glaube nicht, dass es ein Hindernis ist, eine Frau zu sein und zu rappen“, grinst sie. „Im Gegenteil: Es ist einfacher, unter all diesen Männern aufzufallen.“
Ähnlich pragmatisch lautet ihre Empfehlung an alle anderen aufstrebenden Rapper:innen:
Wenn ich anderen, die rappen wollen, einen guten Rat geben müsste, würde ich einfach sagen: Genießt die Reise, stürzt euch hinein und hört bloß nicht auf die Hater.“
Annelise im Interview mit der Innovative Artist Academy, Original: „Hvis jeg skal give et godt råd til andre som gerne vil rappe, så vil jeg bare sige nyd rejsen, spring ud i det og lad være med at lyt til dine haters.“
Annelise selbst stürzt sich kopfüber in das Abenteuer Rapmusik. Sie veröffentlicht in unregelmäßigen Abständen Singles, reißt mit ihren Struglaz-Kolleg:innen so manche Bühne ab. Doch wie viele andere muss auch sie irgendwann feststellen, dass die Umtriebigkeit einen Preis hat und ihre Ressourcen begrenzt sind. In der Corona-bedingten Zwangspause kann sie es nicht länger ignorieren: Zog es sie früher an jedes Mic, auf jede Bühne, fehlt inzwischen der Antrieb. Auftreten, veröffentlichen zu müssen, fühlt sich plötzlich wie eine Last an.
Annelise kämpft mit Stress und Burnout-Symptomen, entschließt sich aber, auch diese unschöne Erfahrung mit ihrer Fangemeinde zu teilen. „Ich bin seit drei Monaten krankgeschrieben“, schreibt sie im September 2021 auf Facebook. „Ich denke, es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass uns das alle betreffen kann, und dass es tatsächlich oft dann passiert, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Nach intensiven (auch schwierigen, aber megatollen) Jahren der Selbsterkundung, Veränderung der Lebensumstände und großen Lebensentscheidungen dachte ich, ich sei immun gegen so etwas, und fit genug, um immer weiterzukämpfen. Naiv? Vielleicht. Jedenfalls hat mich der Stress umgehauen, und ich muss feststellen, dass ich mich momentan außerstande fühle, große Aufgaben zu bewältigen, zu arbeiten oder mich übermäßig sozial zu verhalten.“
Trotz allem schwingt keine Bitterkeit in Annelises Abschiedsworten mit: „Es fühlt sich tatsächlich völlig okay an, diese Entscheidung getroffen zu haben und sie auch laut auszusprechen. Ich bin nicht traurig, nur einfach mega dankbar für all die Erfahrungen, die Freundschaften und die Erlebnisse, die ihr mir auf dieser Reise beschert habt. Es ist vielleicht nicht für immer, aber für jetzt: Danke.“
An diesem ‚vielleicht nicht für immer‘ klammern wir uns jetzt einfach fest, während wir Annelise von Herzen gute Erholung und alle nötige Kraft wünschen. Die Tracks, die sie uns geschenkt hat, bleiben uns zum Glück ja erhalten.