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Apolonia

Apolonia

Vor einigen Wochen war ich auf ein Online-Panel der „Global Summit for Empowerment and Culture“ zum Thema „HipHop in the media“ eingeladen. Die Anfrage kam aus Venezuela, von einer HipHop-Aktivistin namens Clara Guilarte. Mitten im Mailverlauf ließ sie, als random Randnotiz, fallen, sie sei die erste Rapperin Venezuelas gewesen und habe unter dem Künstlerinnennamen Apolonia ein Stückchen lateinamerikanischer HipHop-Geschichte mitgeschrieben. Ihr wisst, wie es läuft – so einfach kommt mir keine Rapperin ohne Portrait davon. So sahen wir uns zwei Monate später bei Zoom wieder.

Doch Apolonia auf ihr Schaffen als Rap-Pionierin zu limitieren, würde ihr unrecht tun. Apolonia ist HipHop mit jeder Zelle ihres Körpers: Sie ist Entrepreneurin, Beraterin, Artist Director, Veranstalterin und hauptberuflich HipHop-Nerd. All das hat sie sich selbst angeeignet:

Es kommt immer irgendwann ein Moment, in dem man nicht weiterkommt und etwas dazu lernen muss, weil man vielleicht nicht genügend Budget hat, um jemanden anzuheuern, wenn man independent ist.“

Apolonia im Interview mit 365 Female* MCs

Doch Apolonia ist nicht nur verdammt gut darin, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie liebt es, als Multitaskerin, die fest im HipHop verwurzelt ist, ihren Weg zu gehen.

Clara Guilarte kommt in Caracas zur Welt, verbringt aber einen Teil ihrer Kindheit bei ihrer Tante in Hamburg. Dort lernt sie nicht nur fließend Deutsch, sondern vor allem HipHop kennen und lieben. Zurück in Venezuela, ist es zunächst schwer, diese neu entdeckte Leidenschaft weiter auszuleben. „1992 gab es hier gar nichts – zumindest dachte ich das.“ Ohne Internet war es schwer, von der aufkommenden Szene in Lateinamerika Wind zu bekommen, nur selten lief man anderen HipHop-Heads über den Weg. So ließ sich Apolonia von ihren Freund:innen aus Deutschland Kassetten mit Rapsongs schicken, die im Schnitt drei Monate mit der Post unterwegs waren. Selten dürfte die Post so gut an der HipHop-Passion eines Menschen verdient haben. „Mein Pflegevater hat mir beigebracht, Kassetten selbst aufzunehmen. Vor den Top 40 im Radio liefern hier meist ein oder zwei R&B- oder Raplieder, die ich dann aufgenommen habe.“ Keine Import-Sektion in den lokalen Plattenläden ist sicher vor der Teenagerin, die in ihrer Freizeit zudem durch ganz Caracas fährt, um die aktuellen Ausgaben von Szenezeitschriften wie The Source zu erstehen. Als es auch im venezolanischen Radio in der Sendung Cosmobabies erstmalig eine HipHop-Rubrik gibt, glänzt die junge Clara bei regelmäßigen Studioanrufen mit ihrem Nerdwissen über aktuelle Rap-Releases. Der DJ der Sendung sagt ihr auch, sie solle unbedingt eine neue, aufstrebende Rap-Crew aus Caracas auschecken, die im Radio zu Gast seien: La Corte. Die damals sechsköpfige Band macht sich in der lateinamerikanischen Rapszene mit ihrem Sound zwischen Rap und Salsa gerade einen Namen.

Ich habe die in der Sendung verloste CD gewonnen – von der Crew, die später meine Crew werden sollte. Ich musste die CD dann im Radiosender abholen und lernte dort meinen DJ kennen, mit dem ich ein wenig im Studio gechillt habe. Ein paar Tage später rief er mich an und fragte, ob ich nicht bei der Crew dabei sein will.“

Apolonia im Interview mit 365 Female* MCs

Das Debütalbum von La Corte, „Código Demente“, ist zu dem Zeitpunkt zwar bereits draußen, aber Apolonia schreibt dennoch fleißig neue Parts zu den bestehenden Songs, um sie gemeinsam mit ihrer neuen Band zu performen. So wird die junge Rapperin mit gerade einmal 19 Jahren zur ersten Female MC Venezuelas. Doch nicht nur auf der Bühne bringt Apolonia sich ein. Als Independent-Band gibt es genug zu tun, und Clara merkt schnell, dass sie auch in organisatorischen Aspekten wie dem Vertrieb der ersten CD ordentlich Talent mitbringt.

Ich war so jung als das alles anfing. In Venezuela war ich vorher eine ziemliche Außenseiterin gewesen. Plötzlich von Leuten umgeben zu sein, die meine Musik mochten, war ein kleiner Schock für mich. Wir mussten uns erst einmal aneinander gewöhnen. Für die war es eine komische Sache, sich mit einer Frau hinzusetzen, die mehr über HipHop wusste als sie selbst.“

Apolonia im Interview mit 365 Female* MCs

Bis sich Apolonia auf der Bühne wohl fühlt, dauert es etwas. Da die HipHop-Szene zu dieser Zeit überschaubar ist, teilen sich La Corte die Bühne wahlweise mit puerto-ricanischen Reggaeton-Urvätern oder mit Rockbands. Trotz mäßig ausgeprägter musikalischer Überschneidungen ist die Stimmung gut, der Band schlägt viel Liebe von Musikszene und Publikum entgegen, was auch der Rapperin mehr Sicherheit gibt.

Zwei Jahre später – pünktlich zur Jahrtausendwende – erscheint das zweite La Corte-Album „Imperia“. Diesmal hat die Crew ein Label im Rücken, für das Apolonia auch arbeitet. Schnell wird die junge Frau so aber auch auf die Schattenseiten der Industrie aufmerksam: Wie schon viele HipHop-Acts auf der ganzen Welt, sind La Corte an einen Deal geraten, für den sie zwar hohe Anteile abgeben, aber wenig als Gegenleistung bekommen. Management, Plattenfirma und Crew-Leader erwarten von allen Beteiligten volles Commitment bei einen zum Teil recht fragwürdigen Umgang mit den Bandmitgliedern, sagt Apolonia heute. Dazu fliegt auf, dass auch innerhalb der Band unfair mit Geld umgegangen wird und Apolonia von allen Beteiligten am wenigsten bekommt. Es ist der Anfang vom Ende für die Crew, die in der venezolanischen Rap-Szene einen großen Impact hinterlässt.

„Damals war HipHop in Venezuela etwas völlig Neues. Die Art und Weise, wie wir als HipHopper wahrgenommen und wie uns begegnet wurde, war sehr zum Nachteil für uns“, lässt Apolonia diese Zeit Revue passieren. Der Status als Rap-Pionier:innen ist La Corte erhalten geblieben. Dennoch wünscht sich die MC heute, sie wären damals mutiger an ihre Musik herangegangen:

Wir hatten einen ganz großen positiven Einfluss, aber wir hatten auch einen negativen Einfluss. Unser Auftreten und die Art und Weise, wie wir Geschäfte machen, waren schon sehr an das amerikanische Mainstream-Modell angelehnt. Rückblickend hätten wir ein bisschen origineller sein können, besser verankert in Venezuela und Caracas – einer ganz spezifischen Stadt. Daraus hätten wir viel mehr machen können, wenn wir es besser gewusst hätten. Die Art und Weise, wie mit uns aus Business-Perspektive umgegangen worden war, hat unzählige nachfolgende Gruppen geprägt, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten. Dadurch steckte venezolanischer Rap lange Zeit irgendwie fest, niemand kam voran. Das änderte sich erst zehn Jahre später durch die Crew BasYCo.“

Apolonia im Interview mit 365 Female* MCs

Nach der Trennung von La Corte zieht es Apolonia über New York nach Berlin. Vom Mikrofon hält sie sich zunächst fern, sie lernt in dieser Zeit jedoch viel über die Musik- und Veranstaltungsbranche. Vor allem aber, sagt sie rückblickend, lernt sie zu feiern und bekommt Einblicke in die Veranstaltungsbranche. Auch in dem einen oder anderen Studio ist sie zu anzutreffen: So nahm sie zwei Tracks mit Culcha Candela auf, was wir ihrer Freundschaft mit Frontmann Mateo verdanken. Als sich die politische Lage in ihrer Heimat immer mehr zuspitzt, veröffentlicht die Rapperin ihren ersten und bis heute einzigen Solosong „Camino“, der auf einem spanischsprachigen HipHop-Sampler erscheint. „Es ist hart, wenn man so darüber nachdenkt – das Lied ist inzwischen fast 20 Jahre alt, aber in Anbetracht der politischen Situation hier noch immer aktuell“, sagt Apolonia über den Track.

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Als sie Jahre später nach Venezuela zurückkehrt, hat sie ihren Platz hinter den Kulissen der Szene gefunden. „Ich hatte ganz viel Support als Rapperin und viele Möglichkeiten, aber konnte mich da nie so richtig fördern.“ Neben der Musik probiert sie sich als B-Girl, DJ, Writerin und fokussiert sich schließlich, zurück in ihrer Heimat, darauf, Leute zu vernetzen und zu pushen. Apolonia schafft mit ihrer „International HipHop Summit“ eines der größten HipHop-Event im Norden Lateinamerikas. Heute connectet sie mit ihrem Projekt „Global Summit for Empowerment and Culture“ Akteur:innen der Kultur aus über 70 (!) Ländern. Sie bringt jungen Menschen die Werte und Ideen von HipHop bei und supportet Künstler:innen als Artist Director bei der Umsetzung ihrer musikalischen Visionen. Sie stand dem venezolanischen Kulturminister ebenso beratend bei HipHop-Fragen zur Seite wie Firmen wie Red Bull bei der Umsetzung von Rap-Veranstaltungen in Lateinamerika. Dabei entdeckt sie auch nach über 30 Jahren ständig Neues an ihrer großen Liebe:

Man hört nie auf, HipHop zu lernen und zu lehren – und das finde ich sehr schön. Ich lerne jeden Tag etwas Neues durch HipHop. Und ich versuche auch jeden Tag, mein Wissen über HipHop weiterzugeben.“

Apolonia im Interview mit 365 Female* MCs

Das gilt auch für ihre siebenjährige Tochter, der die Rapperin und Aktivistin mit auf den Weg geben möchte, dass sie ihren Platz in der Welt finden kann und wird – so wie es bei Apolonia selbst der Fall war.

Ich hatte niemals die Aussicht, die Welt kennen zu lernen, weil die Bedingungen, unter denen meine Familie lebte, nicht die besten Voraussetzungen gaben, um groß zu reisen oder eine gute Ausbildung zu bekommen. Nur durch HipHop konnte ich all das machen. Ich finde im HipHop ganz viele Sachen, die sich nicht nur im Musikalischen widerspiegeln. Es ist so ein ganz spezielles Gefühl. Es ist etwas, das in meinem Leben allgemeinpräsent ist. Ich kann HipHop nicht einfach aus meinem Leben ausradieren.“

Apolonia im Interview mit 365 Female* MCs

Ihr denkt bei „the teacher“ an KRS-One? Ich denke an Clara Apolonia Guilarte. Dem Teacher war die Rapperin übrigens bereits in ihrer Kindheit in Hamburg über den Weg gelaufen und hatte einer seiner Predigten über die Werte von HipHop gelauscht. Heute ist Apolonia eine HipHop-Powerfrau mit wahnsinnigem Knowledge, die diese Werte lebt und weitergibt, ohne dabei dogmatisch zu sein. Eines dieser Vorbilder, die viel mehr Sichtbarkeit verdienen.

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