Könnt ihr euch eine Female Rap Supergroup vorstellen, einen weiblichen Wu-Tang Clan? Eine Crew, bei der alle beteiligten MCs mit völlig unterschiedlichen Styles an den Start gehen, solistisch abreißen und dennoch als Einheit funktionieren? Ende der 1990er Jahre formierte sich eine ebensolche Supergroup in den USA: die Deadly Venoms.
N-Tyce, J Boo, Finesse, Champ MC und Lin Que hatten sich bereits ihre Sporen im Rap-Underground verdient. Lin Que hatte sich unter ihrem Alias Isis im Umfeld des X-Clans einen Namen gemacht und das Studio unter anderem mit MC Lyte geteilt. Nach geschäftlichen Streitigkeiten mit dem Label East West America/Atlantic Records verließ die Rapperin aus Queens, New York, die Gruppe bereits kurz nach ihrer Gründung, sodass der Kern der Deadly Venoms aus den restlichen vier MCs bestand. N-Tyce aus North Carolina hatte bereits einen amtlichen Hit in ihrer Diskografie als sie Teil der Deadly Venoms wurde. „Hush Hush Tip“ ist ein klassischer Beziehungs-Emanzipations-Track, der mit einem Feature von Method Man und einem mystischen BoomBap-Beat von RZA daher kam. Sie gilt als erster weiblicher Act aus dem Wu-Tang Clan-Umfeld, dem auch die Deadly Venoms selbst zugeordnet werden. Finesse hatte schon seit 1987 als Teil des Duos Finesse & Synquis von sich Reden gemacht. Die „Soul Sisters“ verstanden sich als Gegenentwurf zur Erfolgsband Salt-N-Pepa und verbanden scheppernde Oldschool-Beats mit catchigen Soulhooks und natürlich klassischem Rap. Champ MC aka Kimberly Johnson war dagegen ein klassisches Underground-Gewächs und wurde von Insidern schon als weibliche Antwort auf Rakim mit Hardcore-Einschlag gefeiert, auch wenn sie leider nie dieselbe Aufmerksamkeit wie The God MC erreichte. J Boo aka Viper kam als Newcomerin zu den Deadly Venoms, stand ihren Kolleginnen in Sachen Rapskills aber in nichts nach. Erst 2018 hat die Rapperin ihr letztes Album „I Got Next“ veröffentlicht.
Wie kann es bei dieser geballten HipHop-Superpower also sein, dass wir heute keine „How can HipHop be dead if Deadly Venoms are forever“-Sammeltassen im Regal stehen haben? Wie kann eine so krasse Rap-Crew keinen Legendenstatus haben? Ein wesentlicher Grund dürfte sein, dass die Deadly Venoms offenbar wahnsinniges Pech auf geschäftlicher Ebene hatten. Zwei Mal wurden sie, jeweils mit einem fertigen Album, Teil eines Rechtsstreits mit ihren jeweiligen Labels – die Alben „Antidote“ und „Pretty Thugs“ erblickten nie das Licht der Öffentlichkeit, wurden jedoch jeweils geleakt und erzielten dabei phantastische Kritiken. Erst 2002 erschien mit „Still Standing“ das erste offizielle Album der Crew, jedoch bereits ohne Finesse, die die Gruppe nach zwei gescheiterten Releases frustriert verlassen hatte.
Der Frust ist nur verständlich, denn die Deadly Venoms hatten eigentlich alles, was HipHop wirklich brauchte: zum einen unfassbar viel Talent und individuelle Charaktere. Die taffen Eastcoast-Styles von J Boo, der raue Oldschool-Flavour von Finesse, die eher mädchenhafte Stimme von N-Tyce und der dreckige Flow von Champ MC, die stimmlich am ehesten mit Rah Digga verglichen werden kann, boten ein Gesamtbild, das auch auf Albumlänge nicht langweilig wird. Zum anderen standen die Vier für einen respektvollen und gemeinschaftlichen Umgang miteinander – etwas, das zur Zeit des großen Beefs zwischen den beiden Rap-Queens Lil‘ Kim und Foxy Brown fast unmöglich erschien. Ein riesiges Potenzial also, das auch in der Szene wahrgenommen wurde: Die Wu-Tang Management Company vertrat die Rapperinnen von Beginn an, auch wenn sie sich selbst als „female collective independent of any male overseers“ definierten. Oder wie N-Tyce es im Interview mit dem Billboard Magazin beschreibt: „Just because we’re under Wu-Tang Management doesn’t mean we’re under Wu-Tang“. Auch außerhalb des Wu-Kosmos überzeugten DV mit Features auf Tracks von Shaquille O’Neal und Kurupt. Es geht noch weiter: Mit Outlawz-Künstlerin Storm hatte die Crew zudem eine weibliche Produzentin am Start, die sich gemeinsam mit Russ Prez um die Beats der Deadly Venoms kümmerte.
Klickt man sich durch alte Musikvideos und Liveaufnahmen der Deadly Venoms, so wird automatisch der dringliche Wunsch nach einer Reunion der vier (oder noch besser: aller fünf) MCs wach. Vielleicht war die (HipHop-)Welt um die Jahrtausendwende herum einfach noch nicht bereit für eine All Female Supercrew. Ob es heute wohl anders wäre? In jedem Falle sollten die Deadly Venoms endlich ihren verdienten Platz in den HipHop-Geschichtsbüchern bekommen, denn ihre Story ist mehr als eine Randnotiz. Und so widmen wir dieser legendären Crew das 500. Portrait unserer Reihe 365 Female* MCs.
Ihr macht alle einen super Job!!! Es sind immer wieder fantastische Entdeckungen. Und manchmal, wie hier, bei dv, denke ich, „huch, da haste doch ne Platte von“, und freue mich, dass ich in nem Laden sowas gefunden habe. Liebe Grüße an das Team, aus Leipzig, von Sebastian
Danke für das mega Feedback, Sebastian! Sowas zu lesen freut uns immer sehr! Grüße zurück aus Leipzigs Westen!