Mit 95 Jahren ist Esther Bejarano vermutlich die älteste Künstlerin, die einen Platz bei 365 Female* MCs findet. Zusammen mit Microphone Mafia, einer der am längsten agierenden deutschen Rapgruppen, gibt sie bis heute regelmäßig Konzerte. „Ich werde singen, bis es keine Nazis mehr gibt“, sagt Esther Bejarano. Um diese eindeutige Positionierung besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in ihre Geschichte:
Sie wurde als Esther Loewy 1924 in Saarlouis geboren, das damals im vom Deutschen Reich abgetrennten Saargebiet lag. Schon früh kam sie durch ihren Vater, einen jüdischen Lehrer und Kantor, mit Musik in Berührung. Er brachte ihr Klavier spielen bei und legte so den Grundstein für Bejaranos Leidenschaft, die sich wie ein roter Faden durch ihre Lebensgeschichte ziehen sollte. Sie selbst sagt dazu: „[…] kulturell hat mir das Aufwachsen in einem jüdischen Elternhaus viel gebracht. Die Liebe zur Musik; ich bin nicht zufällig Sängerin geworden.“
Nach der Machtergreifung der Nazis und der Reichspogromnacht musste Loewys Familie häufig umziehen. Ihr Vater wurde nach Wrocław (Breslau) versetzt, Loewy bereitete sich in Berlin auf die Ausreise nach Palästina vor, wohin auch schon ihre ältere Schwester geflüchtet war.
Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges verhinderte ihre Flucht jedoch. 1941 schlossen die Nazis alle Ausreiselager und deportierten deren Insass*innen in Konzentrations- und Arbeitslager. Im gleichen Jahr töteten die Nazis Loewys Eltern in einem Wald nahe der litauischen Stadt Kaunas. Sie selbst musste zunächst Zwangsarbeit verrichten und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert.
In Auschwitz spielte sie den Blockältesten regelmäßig klassische Musik vor und wurde deshalb von ihnen für das Mädchenorchester vorgeschlagen. Da es dort kein Klavier gab, musste Esther Loewy improvisieren: obwohl sie das Instrument noch nie zuvor gespielt hatte, meldete sie sich als Akkordeonspielerin und konnte beim Vorspielen überzeugen – bis heute bezeichnet sie ihre Aufnahme ins Mädchenorchester als „Wunder“. Das Orchester begleitete Neuankömmlinge im Lager musikalisch, um sie in Sicherheit zu wiegen – die meisten von ihnen „mussten direkt ins Gas“, wie Esther Bejarano erzählt.
Als im KZ Auschwitz jüdische Menschen mit „arischem Blut“ gesucht wurden, meldete Loewy sich, wurde als „viertelarisch“ anerkannt und ins KZ Ravensbrück nördlich von Berlin verlegt. Im Lager musste sie Zwangsarbeiten für Siemens verrichten – Loewy nutzte diese Arbeit, um Schalter falsch zusammenzubauen und so den Betrieb zu sabotieren.
Zum Kriegsende musste Loewy an den berüchtigten Todesmärschen teilnehmen. Auf einem dieser Märsche täuschte sie gemeinsam mit sechs Freundinnen ihre SS-Bewacher*innen und floh. Ihre Flucht war erfolgreich und sorgte dafür, dass sie den Sieg der Alliierten über den Faschismus erleben konnte. Nach dem Krieg wanderte sie nach Palästina (ab 1948: Israel) aus, wo sie etwa zehn Jahre lebte und Nissim Bejarano kennenlernte – ihren späteren Mann, dessen Namen sie annahm und mit dem sie zwei Kinder bekam.
Das politische Klima in Israel gefiel Esther Bejarano nicht. Sie aß immer weniger und bekam starke Kopfschmerzen, weshalb sie und ihr Mann sich dazu entschieden, mit den gemeinsamen Kindern auszuwandern. Über Umwege landeten sie 1960 in Hamburg, wo Bejarano eine Boutique eröffnete. In dieser Zeit politisierte sie sich stark, engagierte sich in antifaschistischen Initiativen und forschte in der eigenen Geschichte. Unter anderem gründete sie das Auschwitz-Komitee für die Bundesrepublik Deutschland, das bis heute Zeitzeugengespräche und Bildungsreisen organisiert.
2009 kam es schließlich zur Zusammenarbeit mit Microphone Mafia, bestehend aus den Kölner Rappern Kutlu Yurtseven und Rossi Pennino. Die Band suchte damals einen Weg, um Schüler*innen über die Verbrechen der Nazizeit aufzuklären und um einen musikalischen Kontrapunkt zu den „Schulhof-CDs“ der rechtsextremen freien Kameradschaften zu setzen. Zusammen mit Esther Bejarano und ihren Kindern nahmen die Kölner Musiker die Alben „Per La Vita“ und „La Vita Continua“ auf. Bis heute spielen sie zusammen eine Mischung aus 90er-Jahre-Rap, jiddischer Folklore und klassischen Liedern des Widerstandes. Konzerte der 95 Jahre alten Frau, deren Lebensgeschichte so aufregend wie wendungsreich ist, sind ein Erlebnis. So lange Esther Bejarano noch lebt, solltet auch ihr versuchen, eines ihrer Konzerte zu besuchen. Die Termine findet ihr auf der Website der Band – hoffentlich kommen noch viele weitere hinzu.