Sie könne „zur deutschen Erykah Badu werden“, attestierte ihr einst das Nachrichtenmagazin Spiegel. „Charisma in Reimform“, wortspielt die Juice. Fleur Earth selbst ist um hochtrabende Vergleiche ebenfalls nicht verlegen:
Goethe ist mein Leitfaden gewesen. Der hat mich sehr inspiriert.“
– Fleur Earth gegenüber dem Spiegel
Um ähnliches Mainstream-Potenzial zu entwickeln wie der Deutschen liebster Dichterfürst, wie Erykah Badu oder (ein Vergleich, der ebenfalls häufig fällt) wie Georgia Anne Muldrew, entpuppt sich Fleur Earth aber doch als zu schräg. Zu eigen und, ja, auch zu eigenartig inszeniert sie ihre Musik und wählt sie ihre Themen, um damit wirklich ein breit gefächertes Publikum abzuholen. Als sie während der Corona-Pandemie in den Chor der „besorgten Bürger:innen“ einstimmt, weicht das Bedauern darüber, dass Fleur Earth ihre sehr spezielle Nische nie wirklich verlassen hat, einer gewissen Erleichterung: So bekommen wenigstens nicht allzu viele Menschen mit, wie sie zum „Aufwachen“ auffordert, von der vermeintlich „bedrohten Freiheit“ erzählt, vor den Gefahren der Corona-Impfung warnt, oder vor „Propaganda“, die „die Medien“ uns „weismachen“. Öh … okay, holla, was ist da los?
Wenn eine:n etwas verstört, hilft oft ungemein, sich direkt bei den Verantwortlichen zu erkundigen. „Ich wollte mich politisch eigentlich gar nicht so weit aus dem Fenster lehnen“, gibt Fleur Earth auf Nachfrage freimütig Auskunft. „Aber ich bin ein sehr kritischer Mensch und ich nutze Kunst, um Sachen – und auch mich selbst – in Frage zu stellen.“ Bei Ausbruch und im Verlauf der Pandemie, so erzählt sie, habe sie immer mehr Diskriminierungen wahrgenommen, etwa von Menschen, die sich (wie sie selbst) nicht impfen lassen wollen. Dabei habe sie sich an die Zeit erinnert gefühlt, als sie Ende der 1980er nach Deutschland gekommen war und sich als Schwarze Frau vielen Anfeindungen und Ausgrenzungen ausgesetzt sah. „Die herrschende Diskussionskultur hat mich sehr gestört“, sagt sie. „Ich wollte als Künstlerin eine öffentliche Debatte unterstützen.“ Man muss weder ihre Meinung teilen noch ihre Beteiligung bei einer umstrittenen Kampagne wie #allesaufdentisch gut heißen, kann so aber doch etwas besser nachvollziehen, was sie dazu bewogen hat.
An Fleur Earths musikalischem Vermächtnis ändern ihre Ansichten ohnehin nichts. Unzweifelhaft gehört diese Frau zu den ersten Künstler:innen, die einen erfolgreichen Versuch unternommen haben, das allgemein als sperrig geltende Deutsche Neo-Soul-tauglich zu machen. Dabei verbringt sie ihre Kindheit und Jugend noch nicht einmal in Deutschland: Zwar in der DDR geboren, wächst Fleur Mouanga aber im Kongo auf. Erst 1989 zieht sie zurück und landet in Köln, wo sie eine Ausbildung zur Energieanlagenelektronikerin absolviert. Später legt sie obendrein erfolgreich ihre Meisterprüfung ab. Das Gegengewicht zu dieser wenig poetisch anmutenden Profession findet sie in der Musik: Rap, Gesang, Spoken-Word-Poetry gehen in ihrem Kosmos Hand in Hand.
Einen Grundstein ihrer Laufbahn als Musikerin legt Fleur Earth 2005 bei einer Open Mic-Session. Unter Gleichgesinnten knüpfen sich die Netzwerke wie von selbst: Fleur lernt unter anderem Twit One kennen, der bald als Bassist im Line-Up der frisch gegründeten Fleur Earth Experience steht. Lewis Gropp an den Drums und Daan Henderson am Keyboard gehören ebenfalls zum harten Kern des Projekts. Die umtriebige Künstlerin veröffentlicht solo unter eigenem Namen oder zusammen mit Producer Quo Vadis als Forsch‘ und Facette. Fleur Earth nennt sie dabei ihre intuitive, emotionale Gehirnhälfte, ihr Alter Ego Forsch verkörpere den logisch-rationalen Teil. Obendrein kooperiert sie mit Hulk Hodn, Retrogott, Suff Daddy, Tami, Kuchenmann und, und, und …
Lust auf das erste Album ihrer Experience schürt Fleur Earth aber erst einmal fast alleine: Auf ihrer „Skurreal“ von 2008 schieben lediglich Twit One und Hulk Hodn die Regler. Die Kritik zeigt sich des Lobes voll: Irgendwo zwischen Minnie Riperton und Dudley Perkins verorten euphorische Reviews den Gesang, angesichts der Beats fallen noch größere Namen: Pete Rock, J. Dilla und MF DOOM? Kein Wunder, dass diese Mischung beim Kölner Label mit dem vielsagenden Namen Melting Pot Music Obdach findet. Als „Straßenkötersoul“ bezeichnet die Fleur Earth Experience ihr unikates Gebräu, genau so heißt auch ihr Debütalbum: „Soul Des Cabots“.
Die Projekte und Mitstreiter:innen wechseln, eins jedoch zieht sich wie ein roter Faden durch Fleur Earths wachsende Diskografie: Immer wirken ihre Lyrics, als begleite man sie auf einem Spaziergang durch ihre teils ordentlich mäandernden Gedankengänge. So kryptisch sich ihre Texte zuweilen gestalten, so klar und unmissverständlich positioniert sich Fleur Earth, etwa gegen den Machismo und allgegenwärtigen Sexismus im Musikgeschäft oder gegen den omnipräsenten Leistungsdruck in der kapitalistischen Gesellschaft. Trotz der komplexen Themen, die sie anspricht, stellt die Musikerin die Emotion stets über die Ratio. Das führt sehr oft zu wahnsinnig fesselnden, berückenden, groovy-packenden Resultaten wie „wasichloswerdenwollte“:
Auf der anderen Seite öffnet diese Emotion-größer-Vernunft-Denke aber halt auch der fragwürdigen Rhetorik derer Tür und Tor, die einem ominösen Bauchgefühl genauso (oder sogar mehr) vertrauen als wissenschaftlichen Erkenntnissen. Auch wenn auf der Hand liegt, dass Fleur Earth in eine rechte Ecke weder gehört noch dort steht: Auf ihrem jüngsten Album „Seele“ von 2022 finden sich neben gefühlvollen Lovesongs etliche Formulierungen, die für einen befremdlichen Vibe sorgen, passen sie doch nur allzu gut ins Querschwurbler-Narrativ von der angeblich in Gefahr befindlichen „Freiheit“, die die „Erwachten“ gegen „die da oben“ verteidigen müssten.
Was soll das eigentlich sein, „Freiheit“? Die Bonner Künstlerin Sabine Huth hat sich darüber Gedanken gemacht. Diverse Proband:innen fragte sie unter anderem danach, wovon sie sich eingeengt fühlen, oder eben befreit. Die Ergebnisse dokumentiert die Installation „I know how it feels to be free“:
Den Sound dazu? Hat Fleur Earth beigesteuert und sich dafür nicht von Goethe inspirieren lassen, sondern von Nina Simone, einer ebenfalls äußerst widersprüchlichen, nicht ganz unproblematischen Person. Irgendwie passt das perfekt, wobei Fleur Earth die große Mrs. Simone in der Disziplin „Dialogbereitschaft“ wahrscheinlich locker in den Sack gesteckt hätte.
Übrigens bleibt die Arbeit mit Sabine Huth wohl nicht die letzte Gelegenheit, bei der Fleur Earth sich auf anderen Gebieten der Kunst umsieht: Gerade erst hat sie ihr eigenes Label mit dem putzigen Namen Schildkröte aus der Taufe gehoben. Darüber möchte sie neben Beatkunst auch Malerei eine Plattform bieten – und natürlich ihrer eigenen Musik, von der sie, wie sie sagt, noch jede Menge in der Hinterhand hält.