In Okkultismus und Zahlenmystik genießt die 666 einen finsteren Ruf: Als „Zahl des Tieres“ symbolisiert sie bereits in der Offenbarung des Johannes den Antichristen. Als 666. in dieser Reihe eine Frau zu porträtieren, die sich La Bruja – also: „die Hexe“ – nennt, erscheint da wie eine passende Wahl …
… und auch wieder nicht. Wenn überhaupt eine Hexe, dann ist diese La Bruja eine der allerfreundlichsten Sorte, obwohl der Name, unter dem sie als Rapperin in Erscheinung tritt, auf eine düstere Geschichte referiert. Selbige ist in Mexiko, vor allem im ländlichen Raum, bestens bekannt: La Bruja kennt man dort als oft und gern besungenes Fabelwesen, das seine Opfer bezirzt, verführt und ihnen dann das Blut aussaugt. Zum Volkslied gehört ein traditioneller Tanz, bei dem eine brennende Kerze auf dem Kopf zu balancieren ist.
„Tanz“ liefert immerhin ein gutes Stichwort, um auf „unsere“ La Bruja überzuleiten, handelt es sich doch um eins der unzähligen Talente der Frau, die im Januar des Jahres 1977 als Kind puerto-ricanischer Einwanderer in New York das Licht der Welt erblickt. Die Urgroßmutter, die als Poetin der Familie gilt, nimmt ihre junge Nachfahrin schon früh unter ihre Fittiche und ermuntert sie, zu dichten und im Familienkreis vorzutragen: Ihr erstes eigenes Gedicht ersinnt Caridad de la Luz der Überlieferung nach mit zarten drei Jahren. Bald schon organisiert sie kleine Shows und Vorträge für ihre Familie, bei denen sie Poesie rezitiert oder ihre liebsten Salsa-Sängerinnen imitiert.
Später soll sie sich nicht nur einen, sondern gleich mehrere Namen machen: Caridad de la Luz wird Tänzerin, Schauspielerin, Dramatikerin, Dichterin, und gilt als eine der versiertesten Spoken Word-Performerinnen der Welt. Sie singt und rappt, moderiert Radioshows und Poetry-Slams, fotografiert – und sozial engagiert ist sie auch noch: Als Aktivistin setzt sie sich seit Jahrzehnten für benachteiligte Jugendliche in ihrer Hood in der South Bronx ein und will ihnen durch Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu besseren Perspektiven verhelfen. Insbesondere liegen ihr junge Latinas am Herzen, die oft genug wenig rosige Zukunftsaussichten haben.
Neben ihrem tatsächlichen feiert Caridad de la Luz noch einen zweiten Geburtstag: „Es geschah im Nuyorican Café, am 3. April 1996″, erzählt sie der Washington Post. „Ich habe mich zu einer Open-Mic-Performance angemeldet, bin aufgetreten und habe stehende Ovationen kassiert. Danach habe ich einfach nicht mehr damit aufgehört.“
Eine gute Idee, wie es scheint: In ihrer Musik verquirlt sie – wenn man so will: wie in einem brodelnden Hexenkessel – alle Einflüsse, die sie über die Jahre aufgesaugt hat. Ihr puerto-ricanisch geprägtes Viertel ist durchdrungen von Salsa und später Reggaeton. Rock liegt in den ausgehenden Siebzigern ohnehin in der Luft. Wir befinden uns aber immer noch in der Bronx, wo die Wiege eines anderen Genre-Babys stand: „Wir haben HipHop gemacht, bevor wir wussten, was HipHop ist“, erinnert sie sich. „Wir haben auf Pappkartons gebreakt und uns auf dem Bürgersteig kleine Reime an den Kopf geworfen.“
Ganz nebenbei schlägt sie aber auch noch eine wissenschaftliche Laufbahn ein: Nach ihrem Schulabschluss mit Auszeichnung studiert sie Literatur- und Theaterwissenschaften. Bald schreibt sie eigene Bühnenstücke und entwickelt verschiedene Charaktere, die in ihrer Arbeit immer wieder auftauchen. Ihr Stück „Boogie Rican Blvd“ bevölkern sieben Figuren, die verschiedenen Stereotypen in ihrem New Yorker Barrio nachempfunden sind. Caridad de la Luz spielt alle Rollen, auch die männlichen, selbst.
Neben Engagements als Tänzerin und als Schauspielerin schreibt sie Gedichte und Essays. In ihrer One-Woman-Show Bru-ha-ha schließlich entsteht das Alter Ego La Bruja, unter dem Caridad de la Luz ihre musikalischen (und vorwiegend rap-bezogenen) Aktivitäten vorantreibt. La Bruja macht Aufnahmen mit Afrika Bambaataa, Fat Joe, B-Real, den Jungle Brothers, Joell Ortiz … wie viel Zeit haben wir? Die Liste ist lang.
Nebenher hostet sie eine Radioshow, tritt in diversen Werbespots auf, bekommt Kinder, betreibt mit El Garaje eine Art offenes Atelier, das verschiedenen Arten von Kunst ein Obdach bietet, im Nuyorican Café, wo sie einst selbst begann, hostet sie eine eigene Open Mic-Nacht. La Bruja tritt gerne und oft in Schulen, Universitäten, Gemeindezentren, Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen auf. Sie performt, hält Vorträge, gibt Workshops und hebt obendrein mit Latinas4Life eine Organisation aus der Taufe, die jungen Frauen lateinamerikanischer Abstammung (und nicht nur denen) positive Rollenvorbilder zeigen will.
Ihr Engagement als Aktivistin befruchtet dann wieder ihre Kunst: Aus den Beobachtungen des alltäglichen Lebens und Überlebenskampfs bezieht La Bruja Inspiration für ihre Texte. Weiblichkeit, Selbstbewusstsein, ihr puerto-ricanisches Erbe und HipHop: Auf diesen vier Säulen ruht das Schaffen von La Bruja.
… und wie war das jetzt mit der Hexerei? La Bruja bevorzugt die Bezeichnung „Magie“: „Jeder trägt sie in sich“, erklärt sie. „Ich mag es, eine Verbindung zu den Leuten aufzubauen und ihnen klar zu machen, dass sie dieselben Möglichkeiten haben, alles zu tun, das ihre Träume Wirklichkeit werden lässt.“ Das ist doch wirklich das genaue Gegenteil einer finsteren Botschaft – und damit höchst angemessen, um das satanische 666. Portrait zu beschließen.