Wir wissen es alle längst: Guter Rap gedeiht im Dreck. Als wolle sie diese Gewissheit untermauern, taucht 2022 ScarLip auf dem Radar auf, bereit, erst New York und dann die ganze Welt zu übernehmen, und beflügelt von übergroßen Träumen:
I want to be a legend. I think I’m doing legendary things. I want to sell millions and millions of records. I want to go Diamond, Platinum. I want to win Grammys. I want to get into acting, I want to be into modeling. If I get sponsored by Pepsi, come on. Do some NBA sponsors. Shaq, what’s popping? I want to do everything under the sun.“
– ScarLip gegenüber Complex
Es müsste eigentlich vermessen klingen. Angesichts des steilen Starts, den ScarLip innerhalb weniger Monate hingelegt hat, möchte man ihr jedoch all das und noch viel mehr zutrauen. Eben drehte sie noch TikTok-Videos auf einem Parkplatz, im nächsten Moment holt Snoop Dogg sie auf die Bühne, um vor 60.000 Leuten aufzutreten. Cardi B, Busta Rhymes, Tony Yayo, Latto, Jadakiss, Lola Brooke, der oben angesprochene Shaquille O’Neal, Swizz Beatz… die Liste von ScarLips Fürsprecher:innen fällt lang und illuster aus. Viele davon haben inzwischen mit ihr kooperiert, und all das startete mit ihrem Song „Glizzy Gobbler“, der 2022 auf TikTok viral ging:
… das stimmt natürlich nicht. ScarLips Geschichte begann schon viel früher, und ihr Weg war wahrlich kein leichter.
Sierra Lucas kommt am 12. Dezember 2000 in der Bronx zur Welt. Sie wächst in Brooklyn bei ihrer Mutter auf. Vom Vater sieht sie nicht viel. Er ist nigerianischer Abstammung, seine Tochter erzählt später, er habe ihre Mutter nur der Aufenthaltsgenehmigung wegen geheiratet. Das richtige Drama folgt jedoch erst: Als Sierra zwölf ist, kommt ihre Mutter bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben. Eine Tante nimmt die Waise und ihre Geschwister auf, was sich allerdings eher als Fluch denn als Segen entpuppt. Sierra erzählt später, der Freund ihrer Tante habe sie mehrfach unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht. Davon, dass Gewalt in der Familie an der Tagesordnung ist, kündet auch Sierras Gesicht: Die markante Narbe, die ihre Lippe ziert, hat ihr der eigene ältere Bruder per Fausthieb beigebracht. Den Krankenwagen ruft nicht etwa die Tante, die ihrer Nichte die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, sondern Nachbarn. Im Krankenhaus, wo sie Sierras Lippe mit vielen Stichen wieder zusammenflicken, bekommt sie mitgeteilt, nachdem ihr Bruder und sie ganz offenbar nicht miteinander auskommen, könne nur eine:r von beiden in der Familie bleiben. Absurderweise muss das Opfer die Sachen packen: Sierra gerät in die Mühlen des amerikanischen Sozialsystems. An acht verschiedene Pflegestellen erinnert sie sich, zwischendurch landet sie immer wieder in Heimen für schwer erziehbare Jugendliche. „Meine sogenannte Familie hat sich einen Scheiß um mich gekümmert“, sagt sie später. „Die krochen erst wieder aus dem Löchern, als ich durchgestartet bin und plötzlich Zuspruch von Cardi B, Snoop Dogg und diesen ganzen Stars hatte.“
Es verwundert nicht, dass diese Frau eine ganze Menge Trauer, Wut und Aggression in sich hat, die alle irgendwo hinmüssen. Schon als kleines Mädchen schreibt Sierra Gedichte, später auch Rap-Texte. Schon die Titel lassen ahnen, wie viel Reflexion ihrer Lebensumstände in den Lyrics steckt, sie lauten „Therapy“, „Foster Care“ oder „Suicide Awareness“:
Poetry was a way I could express myself and, whenever I was going through things I didn’t feel comfortable speaking to anyone else about, I would just stay in my room, writing. It was a healthier way to let my anger out. I spent a lot of my younger years in the system and care homes, so I would write about how those experiences made me feel. My first three songs were just three poems: my life as a Black girl, me being in the foster care system, and losing my mom. The same way Billie Eilish can make those big songs about overcoming depression? That’s what I am trying to do. Before I even made it, I said I wanted to get so big from music that I could open up homes for children.“
– ScarLip gegenüber Stereogum
Zum HipHop hat Sierra vor allem einer gebracht: „My earliest memory of freaking out to music was hearing DMX on ‚Ruff Ryders Anthem'“, blickt sie im Interview mit Stereogum zurück. DMX erwischt sie auf mehreren Ebenen: Auch er hat als Kind Missbrauch erlebt, auch er kanalisiert seinen Zorn in seiner Musik, auch er setzt auf rohe, pure Aggression in seiner Delivery. Als weitere Einflüsse führt die junge Künstlerin Onyx und Lauryn Hill an, und die ebenfalls aus der Bronx stamende Cardi B. Das erste Rap-Video stellt Sierra 2018 online, eigene Tracks entstehen zwischen 2019 und 2020. Im Jahr darauf macht sie zudem mit einem Video Welle, in dem sie die wachsende Gewalt gegenüber Asiat:innen thematisiert.
Ihr optisches Alleinstellungsmerkmal, das Sierra lange als entstellenden Makel empfunden hatte, hat sie inzwischen zu ihrem Künstlerinnennamen erhoben: Sie nennt sich nach ihrer unübersehbaren Narbe, ScarLip:
I was like, ‚I’m going to own this. I’m going to turn my pain into my power‘. If I call myself ScarLip, anything somebody says about me can’t affect me and they can’t say anything about me because this is who I am. And now it’s my scar. My scar is my brand. I just turned my pain into my glory.“
– ScarLip gegenüber Complex
ScarLip beeindruckt jedoch nicht in erster Linie mit derlei unglaublichen Nehmerqualitäten, sondern mit purer, ungezügelter, aggressiver Energie. „Es ist mir alles viel zu hübsch hier“, befindet sie, „so I am bringing back an ugly truth. I bring authenticity, unapologetic rawness, and aggression. I’m bringing pain back to rap. I’m always gonna bring the ugly side.“ Damit rennt sie offene Türen ein. „Glizzy Gobbler“ schießt auf TikTok durch die Decke, ScarLips mehr oder weniger Debüt-Track „This Is New York“ folgt auf dem Fuß und entwickelt sich mit seinem Mix aus 90er-Hardcore-Rap und aktuellem Drill-Vibe unmittelbar zur neuen Rap-Hymne von New York City.
ScarLips Follower:innenschaft auf diversen Social Media-Kanälen kann man beim Wachsen quasi zuschauen, Views und Likes steigen locker in sechs- bis siebenstellige Bereiche. Cardi B repostet einen von ScarLips Clips, Snoop Dogg kommentiert lobend. Letzteres verleitet ScarLip dazu, den Doggfather frech anzuschreiben, ob er nicht Bock auf einen Remix von „This Is New York“ hätte. Seine Antwort: „Fuck, yes“, das Resultat: „This Is Cali“, bitteschön:
Dreistigkeit siegt: Auch Swizz Beatz hat Scarlip einfach so von der Seite angehauen. Vier Tage brauchte er bis zu der Erkenntnis, er wolle die junge New Yorkerin unbedingt auf seinem Album haben. Für „Take Em Out“ spannt er sie mit den Veteranen Jadakiss und Benny The Butcher zusammen. Ihr derzeit noch ausstehendes Debüt-Album wird Swizz Beatz ebenfalls produzieren, er ist nämlich überzeugt: „Diese Frau hat mir DMX geschickt.“ Wenn der Support sogar aus dem Jenseits kommt, kann wirklich nicht mehr allzu viel schiefgehen, also: „Back the fuck up, move the fuck back“!