Sie verkauften Mitte der 1990er Jahre mehr als drei Millionen physische Tonträger, traten unter anderem als Vorgruppe für Michael Jackson auf und gelten bis heute als erfolgreichste weibliche rappende Girl Group, die Deutschland je hervorgebracht hat: Tic Tac Toe.
Mit ihrem rotzig-selbstbewussten Image von der damaligen Musik- und insbesondere auch der deutschsprachigen Rap-Szene wenig ernst genommen, blieben Jazzy, Lee und Ricky den meisten Menschen vor allem aufgrund ihrer Band- wie herzzerreißenden Pressekonferenz im November 1997 in Erinnerung. Über viele Jahre schien dieses unglückliche Happening das einzige erinnerungswürdige Vermächtnis des Trios darzustellen und überschattete damit die eigentlichen Erfolge der drei Musikerinnen. Tatsächlich lassen sich Tic Tac Toe als Paradebeispiel dafür bezeichnen, wie machistisch und ablehnend die Musik- und Rap-Szene in den 1990er Jahren auf den Erfolg von weiblichen Künstlerinnen reagierte. Insbesondere da dieser Erfolg darauf basierte, dass die drei sich nicht etwa süß und sexy inszenierten, sondern rebellisch, selbstbewusst, öffentlich „scheiße“ sagend sowie in gewisser Weise zum damaligen Zeitpunkt für die Musikszene subversiv.
Piss off, I’m not your bitch / I’m not your baby, I’m just a witch / Piss off, I’m not your bitch / I’m not your schubi-dubi-dubi-dam-dam.“
(aus dem Track „ Schubidamdam“, 1997)
Primär basierte die Ablehnung der deutschsprachigen HipHop- und Rap-Szene sogar viel eher darauf, dass die Band lediglich als musikindustrielles Castingprodukt galt und sie vom Sound her so gar nicht in die damals noch dominierende BoomBap-Ästhetik passten.
Die Idee zu Tic Tac Toe hatte Anfang 1995 die spätere Managerin des Trios, Claudia Wohlfromm. Zusammen mit ihrem damaligen Mann Torsten Börger betrieb sie eine Produktionsfirma und war genervt von den anhaltenden machistischen Gesprächen mit den (männlichen) Chefs der Major-Labels, die ihr immer wieder zu erklären versuchten, was eigentlich gute Musik sei: Tic Tac Toe war der subversive Gegenversuch zu beweisen, dass weibliche Artists sehr wohl erfolgreich sein können, auch wenn diese sich nicht nur süß, lieb und hübsch präsentierten, sondern eben auch laut und rebellisch.
Tatsächlich kannten sich Wohlfromm und Liane Wiegelmann aka Lee zum damaligen Zeitpunkt bereits aus ihrer Heimatstadt Iserlohn. Wenig später sprach Lee Ricarda Wältken aka Ricky in einer Boutique an und holte sie ins Team für dieses erfolgversprechende Projekt. Jazzy, die mit bürgerlichen Namen Marlene Tackenberg heißt, traf eher zufällig bei einem Discobesuch in Dortmund auf die restlichen Mitglieder. Nur kurze Zeit später unterzeichneten die drei jungen Frauen ihren ersten Plattendeal – die Geburtsstunde von Tic Tac Toe.
Mit ihrem Debüthit „Ich find dich scheiße“ stiegen Tic Tac Toe im November 1995 direkt auf Platz drei der deutschen Charts ein. Der Track wurde letztendlich sogar mit Platin ausgezeichnet. Nicht weniger erfolgreich charteten auch die nachfolgenden Singles „Funky“, „Leck mich am A, B, Zeh“ sowie die erste Ballade von Tic Tac Toe „Verpiss dich!“, mit der sie auch ihren ersten Nummer-eins-Hit landeten. Das dazugehörige Debütalbum des Trios „Tic Tac Toe“, das im April 1996 erschien, hielt sich sogar ganze 76 Wochen in den Charts und wurde damals in Deutschland und der Schweiz mit Doppelplatin ausgezeichnet – in Österreich “nur“ mit einfacher Platinauszeichnung. Die Nachfolgerplatte „Klappe die 2te“ (1997), auch bekannt unter dem Titel „§ (Jazzy Lee Ricky)“, knüpfte problemlos an den Erfolgskurs des Vorgängers an und sicherte sich sogar die Spitzenposition in den deutschen wie auch schweizerischen Charts. Damit holten sich Tic Tac Toe erneut Doppelplatin. Charterfolge, die bis heute keine andere deutschsprachige Rap-Girl Group erreichte.
Dabei waren Tic Tac Toe nicht einfach nur eine Nische, die Claudia Wohlfromm und Torsten Börger Mitte der 1990er Jahre medienwirksam zu vermarkten und zu füllen wussten. Die immer größer werdende Fan-Community des Trios feierte vor allem die freche, selbstsichere und authentische Art, mit der sich Jazzy, Lee und Ricky in ihren Musikvideos und auf Konzerten präsentierten. In ihren Texten kannten die drei Musikerinnen so gut wie keine Tabus und thematisierten manchmal auf ironische („Beruf Sohn“), manchmal auf schmerzlich ernste Art und Weise Themen wie Geschlechter- und Klassenunterschiede („Ruhrpottn****z“), Drogenkonsum („Warum?“) oder Kindesmissbrauch („Bitte, Bitte, Bitte – küss mich nicht“).
Tic Tac Toe agierten damit nicht nur für zahlreiche junge Frauen und Mädchen als wichtige Vorbilder und Identifikationsfiguren, sondern vor allem eben auch für viele Schwarze und Menschen of Color. Eins darf mal bei all dem Drumherum um das Standing und die Rezeption des Trios zur damaligen Zeit nicht vergessen: Mitte der 1990er Jahre sah die deutsche Popkultur- und Medienlandschaft noch ganz anders aus – nämlich hauptsächlich cis-männlich und weiß.
Denn wir sind die wahren, die schwarzen Schwestern / Packt eure Dödel ein und geht zurück nach Rödelheim […]“
(aus dem Track „ Ruhrpottn****z“, 1996)
Ein Aspekt, der in der Wahrnehmung von Tic Tac Toe retrospektiv viel zu wenig thematisiert wurde und gleichzeitig doch so prägend für zahlreiche 90s Kids of Color gewesen war. In diesem Zusammenhang sei auf den wunderbaren Vortrag „Unboxing: Tic Tac Toe“ im Rahmen der feierlichen Eröffnung des Deutschen Museums für Schwarze Unterhaltung und Black Music (DMSUBM) von Dominik Djialeu (BERRIES Kollektiv & BBQ Podcast)1 vom 11.12.2020 verwiesen. Eindrucksvoll erzählt Djialeu nicht nur die goldenen Erfolgsjahre 1995-1997 von Tic Tac Toe nach, sondern stellt auch noch einmal pointiert heraus, welche wichtige Rolle Jazzy, Lee und Ricky für ihn als junges afrodeutsches Kind Mitte der 1990er Jahre in Deutschland gespielt haben.
Wenngleich es 2000 zusammen mit der Sängerin Sara zu einem Comeback-Versuch von Tic Tac Toe kam, veröffentlichte die Girl Group zwar ein drittes Studioalbum mit dem Titel „Ist der Ruf erst ruiniert…“, konnte dabei jedoch nicht an die vorherigen kommerziellen Erfolge anknüpfen. Selbiges gilt auch für den zweiten Comebackversuch – diesmal wieder in der ursprünglichen Dreierkonstellation – im Jahre 2005. In dessen Folge erschien zwar die vierte Platte „Comeback“ (2006), allerdings verkündeten Tic Tac Toe nur ein Jahr später schon wieder ihre Auflösung.
Ricky und Lee haben sich heute komplett aus der Musik- und Medienwelt verabschiedet. Zwar äußerte sich Jazzy im Podcast „NEVER FORGET“ vom Musikexpress 2020 noch recht zuversichtlich, dass „[d]as letzte Kapitel von Tic Tac Toe […] noch nicht geschrieben [ist]“ (Musikexpress), jedoch sollte man sich nicht allzu große Hoffnungen auf diese erneute Reunion machen.
So sehr sich wahrscheinlich viele Mittdreißiger:innen – mich eingeschlossen – dieses Happening auch wünschen würden, ihren sicheren und prägenden Platz im Herzen ihrer Fans werden Tic Tac Toe auch ohne erfolgreiche Rückkehr wohl nie einbüßen. Und wie viele Artists können nach de facto lediglich zwei Erfolgsjahren dies schon von sich behaupten?
1 2019 führte Lina Burghausen mit Dominik Djialeu aka DJ Tchuani vom BERRIES Kollektiv ein Interview, welches hier auf unserem Blog 365 Female* MCs nachzulesen ist. Darin unterhalten sich beide Szeneakteur:innnen unter anderem über Diversität in der Musikszene, insbesondere bei Bookings für Festivals und Konzerte. Absolute Leseempfehlung!