Wir begeben uns heute auf eine Reise in den Südwesten Lettlands. Genauer gesagt: in die Region Lettgallen: Es ist das einzige lettische Gebiet, das über seine eigene, nach wie vor aktiv gesprochene Sprache verfügt und dessen Name der Tatsache geschuldet ist, dass es auch das „Land der blauen Seen“, also „Latgale“, genannt wird.
Warum wir Euch diesen kleinen geographischen und kulturellen Crashkurs geben? Weil wir das heutige Portrait gerne der lettgallischen Rap-Prinzessin Ūga widmen möchten – ein Titel, den wir uns nicht etwa persönlich für die 27-jährige Daiga Barkāne ausgedacht haben, sondern der ihr gerne auch von der lokalen Presse gegeben wird. Zurecht, wie wir finden!
In der Tat gehört Lettland nicht gerade zu den Ländern, deren HipHop-/Rap-Szene wir als erstes auf dem Schirm haben. Dennoch beweist die Geschichte von Ūga und ihrer Crew beziehungsweise ihrem Label Ausmeņa Records eins umso mehr: Fernab all der Künstler:innen, die derzeit im Mainstream mit Rap-Musik kommerzielle Erfolge feiern, gibt es wirklich überall auf der Welt Menschen, deren Herzen voll und ganz für die Old School-HipHop-Kultur schlagen und die versuchen, diesen Spirit zu erhalten. Insofern war es auch für Ūga mehr als nur eine Selbstverständlichkeit, ihre erste Platte „LG ir HH” zu nennen, also „HipHop in Latgale“.
Doch gehen wir ein paar Jahre zurück … ungefähr in das Jahr 2003/2004, als Ūga um die neun oder zehn Jahre alt war und zusammen mit ihrer Schwester regelmäßig vor dem Radio saß, um einer Show mit dem Titel “European Black Top 40” zu lauschen: Während der Sendung wurde nämlich immer wieder auch Rap-Musik aus der ganzen Welt gespielt, welche die Schwestern dann mit ihrem Kassettenrekorder aufnahmen – retrospektiv nicht nur sehr oldschool, sondern auch sehr der hiphop’schen Mentalität entsprechend. In diesem Kontext hörte Ūga zum ersten Mal Eminems „Just lose it“ und war sofort Feuer und Flamme. Innerhalb kürzester Zeit lernte sie den Song auswendig und rappte mit Slim Shady in den eigenen vier Wänden des Kinderzimmers um die Wette.
Wenngleich Ūga in einer äußerst musikalischen Familie aufwuchs, wie sie im Interview mit 365 Female MCs verriet, fehlte es an den finanziellen Möglichkeiten, um auf eine Musikschule zu gehen und fokussiert Musikunterricht zu nehmen. Aus der Not heraus konzentrierte sich Ūga auf das, was ihr auch ohne Geld zur Verfügung stand: ihre Stimme. Sie übte von zu Hause aus ihren Gesang und war in verschiedenen Chören beziehungsweise Ensembles aktiv. Die Liebe zur Rap-Musik blieb jedoch über die Jahre bestehen, und so kam es um 2016 herum, wie es kommen musste: Auf einer HipHop-Party lernte sie DJ Valns, eins der Gründungsmitglieder des Kollektivs Ausmeņa Records, kennen. Nur kurze Zeit später arbeiteten sie schon gemeinsam am Track „Aust“, auf welchem Ūga ihre ersten Parts einrappte. Die junge Rapperin überzeugte auf ganzer Linie und wurde festes Mitglied der Crew.
2012 gegründet von zwei Dudes, die überwiegend aus ihrem Auto heraus am Freestylen waren, Videos abdrehten und diese dann online veröffentlichten, entwickelte sich Ausmeņa Records über die Jahre zu einem Kollektiv aus MCs, Breakdancer:innen, Graffiti Artists und DJs. Neben der Liebe für die HipHop-Kultur eint die Mitglieder dieser Familie vor allem ihre Verbundenheit zu ihrer lettgallischen Heimat. Dies äußerst sich unter anderem darin, dass alle MCs auf Lettgallisch, also der regionalen Sprache Lettgallens, rappen. Ūga selbst dazu im Interview mit 365 Female MCs:
»Ausmeņa« in Latgalian is a diminutive for the word »dawn«. It is our local epicentre of hip hop, where we also maintain our roots and Latgalian language. […] I speak Latgalian since childhood, I feel more confident and comfortable speaking Latgalian rather than any other language. Of course, as the main part of Latvians speak Latvian, I do too during interviews, and feel OK about that too. I have one song also in Latvian called „Zapte“ [engl. „jam“]. But to me, Latgalian language is more juicy and sometimes more harsh, so it is better for writing rap rather than Latvian.“
Interview with 365 Female* MCs
Auch wenn Ūga die einzige Rapperin im Hause Ausmeņa Records darstellte, fühlte sie sich von Anfang an wohl und akzeptiert an der Seite ihrer männlichen Kollegen. Über die Jahre spielte die Crew auf zahlreichen Konzerten und Jams, verbrachte zig gemeinsame Stunden im Studio und arbeitete mit Ūga an ihrem bereits erwähnten Debütalbum „LG ir HH”, das im Januar 2020 erschienen ist.
Mit ihren elf Tracks zollt die Platte mit dem klassischen BoomBap-Sound aus der Hand der Ausmeņa Record-Beatmaker Nikita Grapp, Jezups und DJ Valns und der zahlreichen klassischen Samples nicht nur der Old School-Ära einen würdigen Tribut. Es sind vor allem Ūga Rap-Parts, die trotz der vorhandenen Sprachbarriere jedem einzelnen Track einen eigenen Stempel verpassen und vom Intro bis zum Outro zum Bouncen animieren. So rappt Ūga beispielsweise im Track „LG ir HH” folgende Zeilen, um der mainstreamigen Rap-Szene einen musikalischen Mittelfinger zu zeigen:
Latgalī ir arī Hip-hops, veceit, pazaklaus / Jī izbūla acss i prosa: „Kas tur meiča mauc”? / Nu da, itei nu Riezeknis, jū par Ūgu sauc / Jū audzei, laista, pacālušs saulī poši Ausmeņa Records.“
Refrain des Tracks „LG ir HH“
(„The hip-hop is here, in Latgale too, dude listen to me / They fade their eyes and say “Is that really a girl, who hits this beat?” / Well yes, this one’s from Rezekne, Berry is her name / She has been raised by Ausmeņa records, and by them driven to fame.“)
In Anbetracht der Tatsache, dass die lettische Rap-Szene (fernab des Mainstreams) in der Tat derzeit nicht allzu viele weibliche MCs hervorzubringen scheint – big shout out an dieser Stelle an Krisy, VIŅA und Ūga -, freuen wir uns umso mehr über so viele HipHop-Vibes in Lettgallen und hoffen inständig, dass Storys wie diese inspirieren.
Nicht zuletzt auch, weil Ūga völlig unerwartet 2021 für ihr Debütalbum kurz hintereinander gleich zwei Preise eingeheimst hat: Wir wollen mehr solche hiphop’sche Girl Power aus Lettland!