Manchmal genügt eine Kleinigkeit, um eine Lawine auszulösen. Im Fall von Villano Antillano handelte es sich um ein YouTube-Video, noch nicht einmal um ein besonders ausgefeiltes. Ihre Session mit dem argentinischen Producer Bizarrap katapultierte die puerto-ricanische Künstlerin bei Fans und Kritiker:innen weltweit auf den Radar. Mit Recht? Aber hallo!
Uns hat die Puerto-Ricanerin mit ihrer selbstbewussten, facettenreichen, höllisch treibenden und dabei stets auf den Punkt vorgebrachten Darbietung jedenfalls schlicht aus den Socken gehauen, und wir stehen mit unserer Begeisterung nicht alleine da: Als erste nicht binäre transgender Person schafft Villano Antillano den Sprung in die Top 50: Global bei Spotify. In Spanien, Latein- und Südamerika entert sie die Charts, in den argentinischen Hot 100 und der Billboard-Hitliste für spanischsprachige Songs verpasst sie die Top Ten nur knapp. „Die Leute denken immer, der Erfolg kam über Nacht“, so Villano Antillano in einem der unzähligen Interviews, die sie plötzlich geben darf. „Aber das war natürlich nicht so. Dahinter steckt viel harte Arbeit.“
Villana Santiago Pacheco kommt am 27. März 1995 in Bayamón zur Welt, einem Vorort von San Juan, der Hauptstadt von Puerto Rico, wo sie von Musik umgeben aufwächst. „In der Karibik ist alles getränkt mit Musik“, erinnert sie sich im Spotify RADAR-Interview. „Wir kochen, putzen, waschen, leben mit Musik.“ Salsa ist allgegenwärtig, später Reggaeton und HipHop. Großen Einfluss hat der Vater: „Er hat mir zwar nichts über Musiktheorie beigebracht. Aber er hat mir vieles gezeigt.“ Zu Villano Antillanos frühen Einflüssen zählt Ruben Blades, Musiker, Sänger, Songwriter, Komponist, Schauspieler, Aktivist und Politiker aus Panama.
Ähnlich wie der vielfach Grammy-dekorierte Kollege, will sich auch Villano Antillano in ihrer Kunst nicht auf eine Sparte festlegen, auch wenn sie mit etwa 16, 17 Jahren anfängt, in ihrem Schlafzimmer mit Laptop und Produktionssoftware herumzuspielen. Die Musik, die so entsteht, findet sie selbst rasch ziemlich gut. Sie veröffentlicht ihre Tracks im Internet, und, wenig überraschend: Andere Leute finden sie auch ziemlich gut. Der Stein kommt ins Rollen. Dabei verfolgt Villano Antillano anfangs gar nicht das Ziel, Musikerin zu werden. „Ich dachte, ich werde vielleicht Visual Artist oder etwas in der Art.“ Bald allerdings stellt sie fest: Ihre Vorstellungen von Ästhetik und ihre Queerness lassen sich in der Musik einfach am wirkungsvollsten umsetzen.
Trans, hyperfeminin, nichtbinär und kein Stückchen bescheiden oder willens, auch nur ein Fitzelchen ihres Talents oder ihrer Reize unter irgendeinen Scheffel zu stellen: In einem überwiegend misogynen, toxisch männlichen, patriarchalisch dominierten Umfeld bedeutet die bloße Existenz einer Person wie Villano Antillano eine Provokation. In ihren Texten wendet sie sich explizit gegen Sexismus, Homophobie und soziale Ungerechtigkeiten und zelebriert ihren queeren Lifestyle. Auch ihre Transition durchlief sie vor aller Augen. Gegenüber dem Metal Magazine erinnert sie sich:
Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das Geschlecht gewechselt habe. Das war wirklich eine besondere Erfahrung. Ich hatte zunächst auch Angst: Ich hatte meine ersten Schritte in der Branche ja bereits unternommen und mich da als Junge präsentiert. Ich sage immer: Als Kind habe ich das sehr gut gemacht, das war schon sehr niedlich (lacht). Aber ich hatte Angst, etwas zu verlieren, das ich schon erarbeitet hatte. Doch letztlich war mir egal, wie hoch der Preis war. Ich tat, was für mich am besten war, und so war es dann auch. Sich zu öffnen und so zu leben, wie ich sein wollte, hat alles verändert: meine Art, Kunst zu machen, wie ich Musik höre, fühle und lebe. Alles, was mir heute passiert, ist ein Produkt meiner Transition.“
Villano Antillano bei metalmagazine.eu
Ihr offener Umgang mit dem Tabu-behafteten Thema macht Villano Antillano zu einer Ikone der queeren Community: „Ich kann mich der Tatsache nicht entziehen, dass allein schon mein Dasein für viele Leute automatisch Aktivismus bedeutet. Ich wache aber nicht jeden Tag auf und denke mir: ‚Oh, ich plädiere jetzt für dies oder das.‘ Ich versuche nur, mein Leben zu leben, Spaß zu haben, jung zu sein und Erfolg zu haben mit dem, das ich tue.“ Um Toleranz gehe es ihr dabei übrigens gar nicht, „niemand hat die Macht, mich zu ‚tolerieren‘, das mach‘ ich schon selbst“, erklärt sie gegenüber Billboard. „Aber ich fordere Respekt.“
Neben der karibischen und Salsa-Musik, die ihr der Vater nahebrachte, entdeckt Villano Antillano bald ihre eigenen Held:innen: Die erste selbst gekaufte CD ist von Shakira, sie hört Gustavo Gerati, Sade und die Königin des Reggaeton, Ivy Queen. Als ihr Role Model Nummer eins bezeichnet sie aber Nicki Minaj: „Sie hat mein Leben verändert.“
Ihr eigenes Händchen für Flows und den Umgang mit Worten zeigt sich schnell. Dass sie nicht bereit ist, diskriminierende Scheiße unwidersprochen hinzunehmen, erfährt die Szene spätestens, als sie 2018 mit einem grimmigen Disstrack auf die homophoben Lyrics in Anuel AAs „Intocable“ reagiert:
„Pato Hasta La Muerte“ beschert Anuel AA den verdienten Shitstorm und entwickelt sich, noch während er öffentlich zu Kreuze kriechen muss, zu einer Hymne der puerto-ricanischen queeren Community.
Villano Antillano veröffentlicht zwei EPs und nimmt massig Songs auf. An ihrem Debütalbum „La Sustancia X“ werkelt sie allerdings zweieinhalb Jahre lang, bis es Ende 2022 endlich erscheint. Den „Soundtrack ihrer Transition“ nennt sie es selbst, es entstand fast ausschließlich in Zusammenarbeit mit queeren und/oder weiblich gelesenen Personen.
Inzwischen hat allerdings die eingangs erwähnte BZRP-Session Furore gemacht, und Villano Antillano ist in aller Munde – und in aller Wohnzimmer: Bei der im Fernsehen und im Netz übertragenen Stadion-Show von Megastar Bad Bunny hat sie einen Gastauftritt und erreicht damit ein Millionenpublikum. Dabei hatte sie vor allem die Familien junger, queerer Menschen im Sinn:
Ich hoffe, dass es ihnen ein bisschen Frieden gibt, wenn sie sehen, dass sich etwas ändert und dass ihre Kinder die Chance haben, in einer Welt aufzuwachsen, in der sie sie selbst sein können. Den Kindern soll es Hoffnung geben, den Erwachsenen eine Lektion erteilen.“
Villano Antillano bei refinery29.com
Für sie selbst habe es in der Gesellschaft und im Musikgeschäft keinen Platz gegeben, also habe sie sich mit Gewalt hineindrängen und sich nehmen müssen, was ihr gebührt. Das spiegelt sich auch in ihrem Künstlerinnennamen. Antillano referiert auf ihre karibische Herkunft, die Inselgruppe der Antillen, Villano jedoch auf den villain, den Bösewicht. Wenn man sie eh schon für einen halte, für jemanden, der eine Gefahr für die herrschende Ordnung darstelle, könne sie dieses Bild auch gleich umarmen und für sich nutzen: „Ich bin eine wunderschöne, erfolgreiche Frau. Was juckt mich, was andere sagen?“
Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ich konnte zulassen, dass die Leute mich in Stücke reißen, oder ich konnte für mich beschließen, dass deren Meinung überhaupt nichts zählt und das einzige, worauf es ankommt, ist, was ich in meinem Innersten fühle und was mich glücklich macht. Also habe ich mich darauf konzentriert […] Ich bin eine gute Produzentin. Ich mache exzellente Musik. Ich bin hypertalentiert.“
Villano Antillano bei Spotify RADAR
Klingt eingebildet? Vielleicht. Es stimmt aber einfach, und inzwischen ahnt man das auch außerhalb der queeren Szene von Puerto Rico: „Ich bin auf Tour, ziehe von Festival zu Festival“, resümiert Villano Antillano den Stand der Dinge gegenüber Billboard. „Ich arbeite eine Menge und bin sehr gespannt, wohin mich das noch führt. Ich habe inzwischen Möglichkeiten, die ich vorher nicht hatte. Man kennt meinen Namen, und ich kann auf ganz andere Ressourcen zurückgreifen. Ich denke also, dass ich damit jetzt ordentlich herumspinnen kann.“
Ja, bitte!