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Visa Vie

Visa Vie

Visa Vie gehört nicht nur zu den einflussreichsten Frauen in der Deutschrap-Industrie, sie spielt auch für 365 Fe*male MCs eine große Rolle. Viele der FLINTA*s hinter diesem Blog haben ihre Interviews verfolgt, sich von ihr inspirieren lassen, sie möglicherweise sogar zum Vorbild für den eigenen Einstieg in die Musikindustrie genommen. Auch wenn Visa Vie keine Rapperin (mehr) ist, ist es nun an der Zeit, für das 999. Portrait über ihre Geschichte und ihren Einfluss auf unser Team zu sprechen.

Charlotte Mellahn, die viel lieber einfach nur Lotti genannt wird, wurde 1987 geboren und führt zwar nicht direkt seit dem Tag ihrer Geburt, aber definitiv länger als die meisten von uns eine Karriere als Moderatorin, Autorin und Schauspielerin. Anfang der 2000er Jahre hätte auch alles anders kommen können: Mit 19 Jahren begann Visa Vie nämlich selbst auch einmal zu rappen, inklusive Rapcontest-Gewinn und Albumveröffentlichung. Zeitgleich zu ihren musikalischen Gehversuchen absolvierte sie aber auch ein Volontariat beim Berliner Radiosender KissFM. Im Radio ist Visa Vie bis heute zu hören, allerdings nicht mehr bei KissFM: Mit ihrer 2013 gestarteten Sendung „Irgendwas Mit Rap“ bei Radio Fritz war sie bis vor kurzem jeden Mittwoch zu hören. Stets waren dort zwei deutschsprachige Rap-Artists zu Gast, die über aktuelle Veröffentlichungen sprachen und mit Visa Vie gemeinsam zwei Stunden lang Deutschrap-Tracks spielten.

Ihre immense Bekanntschaft hat Visa Vie aber nicht dem Radio-Job, sondern besonderes ihren Videoauftritten zu verdanken. 2010 angefangen bei 16bars.de, moderierte sie in den 2010er-Jahren die unterschiedlichsten Musikformate und Interviews, sowohl für eigene als auch fremde Plattformen und Kanäle. Zuletzt veröffentlichte sie zwar immer weniger Videointerviews, ihre Stimme blieb Zuhörer:innen aber auch außerhalb der Radiosendung weiter erhalten: 2018 veröffentlichte Visa Vie ihr selbstgeschriebenes Crime-Hörbuch „Das allerletzte Interview“ auf Spotify, seit 2021 spricht sie im True-Crime-Podcast „Weird Crimes“ mit Ines Anioli. Eine Verfilmung ihres Hörbuches wartet anscheinend ebenfalls auf uns.

So viel also zu den Basic-Facts. Radiomoderation, Online-Videointerviews, True-Crime-Geschichten. Aber sind wir ehrlich: Diese Biografie vermittelt nicht ansatzweise, welch große Bedeutung Visa Vie für die gesamte deutsche Rap-Industrie und den damit verbunden Journalismus wirklich hatte. Auch wenn Visa Vie sicher nicht die erste und einzige Frau in den HipHop-Medien war, so ist es doch ein Stück weit ihr zu verdanken, dass man heute als Frau in der Branche nicht mehr ganz so schlimm beäugt wird, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war.

Visa Vies erstes Video-Interview bei 16bars.de erscheint im März 2010. Dass da plötzlich eine Frau das Mikrofon in Richtung Sido hält, erscheint damals für die meisten Zuschauer und auch Zuschauerinnen befremdlich. Rap, das ist eine männlich dominierte Szene, in der Frauen maximal in den Videos mitspielen dürfen – aber auch nur, wenn sie dementsprechend aussehen und gekleidet sind. Aber mit Kapuzenpullover und Mikrofon in der Hand, das geht natürlich gar nicht. Diese Einstellung vertreten 2010 nicht nur männliche, sondern auch weibliche Rap-Fans – weil man in dieser Szene eben so sozialisiert wurde, es geht um Konkurrenz und Abgrenzung. Doch worum es anscheinend auch geht, wirft man einen Blick in die Kommentarspalte des eben angesprochenen Sido-Interviews, ist das Aussehen von Frauen.

Wer für einen Porno mit Visa Vie ist – Daumen hoch“
Visa Vie ist ja schon ein Schneckchen
Alter, die ist doch nicht hübsch, seid ihr blind oder was?
Visa Vie ab ins Pornogeschäft

So in etwa sehen viele der Kommentare unter Interviews von Visa Vie aus – nicht nur 2010, sondern bis heute. Im Vergleich zu diversen öffentlichen Gewaltandrohungen erscheinen solche Diffamierungen dann aber wohl doch noch als das harmloseste. Ihr Name wird in Songs diskreditiert, ihre digitalen Postfächer füllen sich noch immer mit Hassnachrichten, und auch, wenn ihr Hörbuch „Das Allerletzte Interview“ eine fiktive Story erzählt, kann man doch davon ausgehen, dass einige der übergriffigen, gefährlichen Festival-Backstage-Storys von der Realität inspiriert wurden. Und trotzdem steht Visa Vie auch knapp zwölf Jahre später weiterhin in der medialen Öffentlichkeit und bietet eben diesem Sexismus die Stirn. Ihre Existenzberechtigung musste sie sich in diesen toxischen Umständen erkämpfen – und genau damit, ist sie heute ein Vorbild für viele junge Mädchen und Frauen, die den Einstieg in die Musikbranche wagen wollen.

An dieser Stelle verlasse ich die objektive Autorinnen-Rolle, die darauf verzichtet, aus der Ich-Perspektive zu schreiben. Denn, liebe Lotti, auch ich hätte ohne dich, deinen Mut und dein Durchhaltevermögen wohl niemals begonnen, in dieser Szene zu arbeiten, in der ich mich heute so heimisch fühle. Ich habe als junges Mädchen lange mit Journalismus und Moderation geliebäugelt, als Jugendliche dann auch konkret mit dem Musikbusiness. Auch ich habe die Musik gewisser Gangstarapper gehört und ohne darüber nachzudenken meinen internalisierten Sexismus zum Besten gegeben. Andere Frauen, das sind doch alles Schlampen, ich bin ganz anders als alle anderen – und dann habe ich 2015 das Orsons-Interview geschaut, in dem alle Bandmitglieder auf unterschiedlichste Art die Aufgabe hatten, dich reinzulegen. Dafür, dass ich Orsons-Fan war, lag meine Aufmerksamkeit dann aber doch mehr auf dieser blonden Moderatorin, die das irgendwie alles so super souverän meisterte. Wochen und Monate habe ich versucht, die letzten fünf Jahre Visa Vie-Historie nachzuholen und dabei langsam aber sicher begonnen zu verstehen: Es ist also doch möglich, als Frau in dieser Szene selbstbewusst vor der Kamera zu stehen, statt sich nur im Backstage belächeln zu lassen. Bei meinen ersten Gehversuchen habe ich oft gehört: „Du willst also wie Visa Vie sein?“, in späteren Jahren auch mal ein wirklich nett gemeintes „Wenn du so weiter machst, wirst du die nächste Visa Vie“. Ich glaube wir sind uns da alle einig, dass solche Vergleiche einfach nicht sein müssen, weil wir alle individuell und nicht Kopien voneinander sind. Für mich war das aber trotzdem immer ein Kompliment, denn was kann es bitte besseres geben, als so eine krasse Frau zu sein, wie Visa Vie es ist? Heute weiß ich, dass ich eine ganz eigene Rolle in dieser Branche habe, doch dass du mich dazu bewegen konntest, diesen Schritt zu gehen, das werde ich nie vergessen. In diesem Sinne: Danke dir.

… und weil nicht nur ich dir danke, sondern auch der Rest dieses Team hier, folgt an dieser Stelle ein Best-Of von „Warum Visa Vie so bedeutend für die Rap-Medienlandschaft ist“-Liebesbotschafen.

Penelope Braune, Autorin:
Was bedeutet es eigentlich, als Frau Teil einer Kultur zu sein, die man selbst zwar liebt, bei der diese Liebe jedoch nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht? Wer als FLINTA* mit der hiesigen HipHop-Landschaft der 2000/2010er-Jahre aufgewachsen ist, wird sich mit dieser Frage und der dahinterliegenden Grundambivalenz im Umgang mit der eigenen Leidenschaft für HipHop und Rap wahrscheinlich mehr als einmal beschäftigt haben. In genau solchen zweifelnden Momenten wirkten dann jedoch Menschen aus der Szene, wie die wunderbare Visa Vie, wie kleine Leuchttürme im Dunkeln auf mich. Mit dem Herz auf der Zunge und ohne Hang zu irgendwelchem Gossip, Beef oder einer überheblichen Attitüde, war Visa einfach da: Als Frau und als HipHop-/Rap-Fan hat sie ihr Ding durchgezogen. #HatersGonnaHate, aber Visa Vie war, ist und bleibt damit eine wichtige Identifikationsfigur in der hiesigen Rap-Landschaft – nicht nur für mich, sondern vermutlich für viele weitere FLINTA*. In diesem Sinne nur Liebe für ihre (journalistische) Expertise, ihre Leidenschaft für die Szene und all die Inspiration, es einfach auch mal anders anzugehen, für ihren Mut den Mund aufzumachen, auch wenn es unbequem wird und fürs Leuchten, wenn man sich selbst mal wieder fehl am Platz in der Szene gefühlt hat.


Lina Burghausen, Autorin und Initiatorin von 365Fe*male MCs:
Liebe Visa Vie, liebe Lotti,
wir sind etwa zur selben Zeit in den HipHop-Journalismus gestolpert – trotzdem sind wir uns verhältnismäßig wenig über den Weg gelaufen. Es waren andere Zeiten Ende der 2000er – wir „HipHop-Mädchen“ waren isolierter, und wurden zugleich doch ständig miteinander verglichen. Sah sich jemand meine Videointerviews an, ging es entweder darum, dass ich, laut Comments „eh nur so sein will wie Visa Vie“, wahlweise schlechtere oder bessere Fragen stellen würde, weniger fickbar sei – und hier bitte beliebige Küchen-Witze einfügen. Es war kein nahrhafter Boden für ein Miteinander unter HipHop-affinen Frauen, das weiß ich heute und bedauere es. Damals habe ich – wie du mit Sicherheit auch – um meine Existenzberechtigung in dieser Szene gekämpft. In der Konsequenz habe ich mich, so weit es mir irgendwie möglich war, versucht, von dir abzugrenzen. Dabei waren wir am Anfang des Tages doch nur zwei HipHop-Nerds mit Singstar-Mikrofonen vor einer schlechten Kamera. Heute bin ich so wahnsinnig dankbar, dass deutscher Rap dich hat – und dass ich wegen deiner Präsenz eben nicht allein war in diesem HipHop-Dschungel. Dass ich nicht die Einzige war, die mit Hate und Häme übergossen wurde, obwohl sie doch nur das tat, was sie am meisten liebte. Und auf der anderen Seite wünschte ich dir, mir und allen FLINTA* da draußen, dass wir so etwas nie erlebt hätten. Weil nichts davon gerechtfertigt war und ist. Ich glaube, dir ist oftmals gar nicht klar, wie viele Türen du geöffnet und für nachkommende Generationen an HipHop-affinen Frauen und Mädchen offengelassen hast. Dass Musikjournalismus heute nicht so divers und vielseitig wäre ohne dich. „Die möchte ja nur sein wie Visa Vie“ verstehe ich aus heutiger Sicht nicht mehr als Front – sondern als riesiges Kompliment. Danke für dich und alles, was du für HipHop tust und getan hast!

See Also


Mäd, Illustratorin und Grafikerin:
„Visa Vie war meine Inspiration, mich weiter mit HipHop zu beschäftigen, obwohl (damals noch) alle meinten, das wäre nur was für Jungs.


Johanna, Autorin:
Ohne Visa Vie wäre HipHop nur halb so schön! Visa Vie hatte schon einen ziemlich großen Anteil, dass nach einem langem Abfuck in der Szene und Habitus mein Feuer für Deutsch-Rap wieder zurückkam.


Christina Bakaj, Autorin:
Mit ihrer Stimme und Präsenz als Rapperin, Moderatorin, DJ und Autorin hat Visa Vie Frauen eine Stimme in einer männerdominierten Bubble gegeben. Ihre Geschichten und ihre Arbeit zeigen immer wieder, dass wir lieb sein sollen zueinander und dass Support kein Mord ist.


Ronja Kolls, Autorin:
„Visa Vie kann man getrost als die Grand Dame des Deutschraps bezeichnen. Ihre Stimme erkennt man unter 1000en garantiert wieder. Zu ihrem großen Fachwissen und ihrem genauen Gespür für coole neue Rapper:innen und Tunes ist sie nicht zuletzt auch noch sausympathisch. Was ich aber noch geiler finde, ist, dass sie sich immer positioniert und für Schwächere einsteht. So gut wieder jede:n deutsche:n Rapper:in mit Rang und Namen hat sie bereits interviewt. Und trotzdem ging es viel zu oft darum, wie sie aussieht. Mir erscheint es, als hätte Visa Vie nach vielen Jahren Kommentare der allerschlimmsten Sorte ihre Stimme gefunden, die sie immer wieder an den richtigen und wichtigen Punkten anbringt, insbesondere wenn es um Sexismus geht, aber auch für andere Entgleisungen findet sie den richtigen Ton. Das gelingt ihr in einem Balanceakt, den nicht viele beherrschen. Überhaupt: Wie stark kann eine Frau sein? Man kann sich womöglich nicht vorstellen, was für Scheußlichkeiten Visa Vie sich in ihrem Leben schon wie häufig anhören musste. Von Rap-Konsument:innen, -Fans ebenso wie von Rapper:innen selbst. Wie unermesslich muss ihre Liebe zu dieser
Kultur und Musik sein, das jahrelang mitzumachen. Dass gerade sie als Frau in der Öffentlichkeit und Vorbild immer wieder darauf hinweist, wie schwer es ihr fiel, mit Hautproblemen umzugehen (es mag oberflächlich klingen, aber gerade als Frau in der Öffentlichkeit stelle ich mir das wirklich unangenehm vor, umso mehr Props) oder endlich mit dem Rauchen aufzuhören, ist so wichtig. Visa Vie zeigt nämlich vor allem
eins: ihr großes Herz. Wie schön und erfrischend ist es bitte, in einer Szene, in der Härte und Coolness alles ist, „Seid lieb“ zu seinem Wahlspruch zu machen. Außerdem sind sie und Savvy zusammen definitiv DAS Deutschrap-Dreamcouple.“


Laura Klar, Autorin:
Liebe Visa Vie – mit meiner Liebe für Rap habe ich auch deine großartigen Interviews und Arbeit entdeckt. Dein Feingefühl, deine Schlagfertigkeit und deine klugen Fragen haben meine ganze HipHop-Sozialisation begleitet. Danke auch fürs Durchhalten und Weitermachen, das Aushalten von Hate im Netz und fürs Türen-Auftreten, für alle, die nach dir kamen. Und auch danke dafür, dass du mir einen meiner absoluten Lieblingspodcasts beschert hast!“

View Comment (1)
  • naturally like your web-site however you need to check the spelling on several of your posts.
    A number of them are rife with spelling problems and I in finding it very troublesome to
    tell the truth nevertheless I’ll surely come again again.

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