Was macht man als koranisch-amerikanische Musik-Enthusiastin, wenn die Eltern einen aufgrund der eigenen Amerikanisierung tadeln? Klar: Man geht von Seoul zurück nach New York und wird über Nacht eine der erfolgreichsten US-asiatischen Musikerinnen überhaupt! Dieser Schachzug klingt fast schon ausgedacht, doch im Fall der House- und Rap-Künstlerin Yaeji ist genau das Realität geworden. Heute vermischt sie die englische und koreanische Sprache nicht nur in ihren Lyrics, sondern auch in den Titeln ihrer Werke. Damit bietet sie zum einen Identifikationsfläche für Personen, die zwischen verschiedenen Kulturen aufwachsen, und beweist zum anderen auch sich selbst und ihrer Familie, dass sie endlich den Platz gefunden hat, an den sie gehört.
Kathy Yaeji Lee wird am 6. August 1993 in New York als Tochter koreanischer Eltern geboren, die von amerikanischer Musik vor allem eines halten: Abstand. Nach acht Lebensjahren in Queens und später in Atlanta beschließen ihre Eltern, dass ihr Kind zu amerikanisiert sei und jeglichen Bezug zu seiner koreanischen Herkunft verliere. Die einzig sinnvolle Konsequenz aus dieser Perspektive: ein Umzug zurück in die Heimat, die für Kathy gar keine ist. Es folgen zahlreiche Schulwechsel zwischen Südkorea und Japan, wo die Familie ebenfalls Station macht. Allesamt sorgen sie dafür, dass sie, in der Befürchtung, sie eh wieder aus den Augen zu verlieren, irgendwann gänzlich aufhört, nach neuen Freund:innen Ausschau zu halten. Die Alternative? Internet-Bekanntschaften! Ende der 00er Jahre lernt Kathy online nicht nur Menschen kennen, bei denen sie sich erstmals in ihrem Leben heimisch fühlt, sie lernt von ihnen auch, was HipHop ist.
Nach dem Schulabschluss in Japan zieht Kathy zurück in die USA, um dort in Pittsburgh Konzeptuelle Kunst, Ost-Asien-Wissenschaften und Grafikdesign zu studieren. Erstmals im Leben gefestigt und nicht auf Wunsch ihrer Eltern agierend, beginnt sie zu dieser Zeit, unter ihrem zweiten Vornamen Yaeji das DJing zu erlernen und auf Hauspartys auch vor Publikum einzuüben. Die Veranstaltungen, auf denen sie auflegt, werden mit den Jahren größer, ihre DJ-Sets anspruchsvoller. Irgendwann reicht ihr das Auflegen fremder Songs nicht mehr, sodass sie die DJ-Software Traktor hinter sich lässt und zu Ableton wechselt, einer Producing-Software, mit der sie ihre Beats erstmals auch mit Vocals versehen kann. Es dauert nicht lange, bis ihr erster eigener Song im Campusradio ihrer Uni läuft und ihr eine Fanbase aus Kommiliton:innen beschert. Dieser erste Erfolg schenkt Yaeji die nötige Motivation, um an ihrem Traum festzuhalten, auch, wenn ihre Eltern von der Amerikanisierung ihrer Tochter immer noch alles andere als begeistert sind.
2015 beendet sie das College und zieht nach Brooklyn, um dort als DJ, Sängerin, Rapperin und Produzentin Fuß zu fassen. Nach einigen SoundCloud-Singles beginnt mit ihrem Debütsong „New York ’93“, der im Februar 2016 bei einem kleinen Label erscheint, eine Karriere, die von nun an steil bergauf geht. Mit ihrer ersten EP, die typischerweise genauso heißt wie sie, landet sie einen vollen Erfolg: Jeder einzelne Track kann innerhalb kürzester Zeit mehr als eine Million Streams aufweisen. Als Reaktion darauf wird sie bereits 2017, im Jahr der EP-Veröffentlichung, zu einer der beliebten Boiler Room Sessions eingeladen, ein knappes Jahr später steht sie auf der Bühne des Coachella Festivals. Bei all dem unterstützt sie besonders die Plattenfirma 88rising – und das, obwohl sie dort nicht gesignt ist. Zusammenarbeiten mit verschiedenen Künstler:innen des Labels verschaffen ihr trotzdem erfolgsbringende Kontakte und Auftritte, die ihre Reichweite immer weiter in die Höhe schießen lassen.
Bis heute ist Yaeji eine DIY-Künstlerin geblieben, auch wenn sie mittlerweile Label-Unterstützung erhält. Ihre Beats sind weiterhin selbstproduziert, ihre englischen und koreanischen Texte schreibt sie allein. Ein weiterer Wiedererkennungswert der amerikanisch-koreanischen Künstlerin ist ihr flüsternder Gesang in Kombination mit den New-York-typischen House-Beats. Der Einfluss der East-Coast ist ganz deutlich zu hören und sorgt zeitgleich aber nicht dafür, dass Yaejis Cloud-Rap-Attitüde verloren geht. Besonders deutlich wird das auf ihrem aktuellen Tape von 2020 mit dem Titel „What We Drew 우리가 그려왔던“. Koreanische Hooks stehen dort im Kontrast zu englischen Parts, softe Stimmeinsätze finden Platz auf Kopfnick-Beats, und die lyrische Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Umfeld sorgt für ein harmonisches und doch rebellisches Gesamtbild. laut.de beschreibt diese Mischung als „sozial introvertierte Tanzmusik“: Eine bessere Zusammenfassung für diese empfehlenswerte Künstlerin könnte es wohl kaum geben.